Eugen Christ
Jugend ohne zu altern und Leben ohne Tod
Gedanken zur Relativität der Zeit
In seinem Buch Das Tao der Physik1 demonstriert Fritjof Capra auf beeindruckender Weise, wie die Wissenschaft sog. westeuropäischen Kulturkreises, vor allem die Forschungsergebnisse moderner Physik, mit den Erfahrungen uralter östlicher Philosophie und Weltanschauung harmonieren und zusammentreffen, wie “… die Philosophie mystischer Überlieferungen, die auch unter dem Namen ‚Ewige Philosophie’ bekannt ist, den folgerichtigsten Hinter-grund für unsere modernen wissenschaft-lichen Theorien liefert.”2
Der rumänische Philosoph und Dichter, Lucian Blaga, macht in einer seiner Aufzeichnungen folgende Bemerkung: “Die Volksmärchen haben einen archaischen Ursprung, ein Alter von vielen tausenden von Jahren. Doch in ihnen findet auf phantastischer Art und Weise das gesamte Programm moderner Technik zusammen. Die Wissenschaft, seit der Renaissance bis heute, hat nichts anderes getan, als die Verwirklichungschancen der Volksmärchen zu steigern.”3 Ein sinnverwandter Gedanke zu Capras Feststellungen.
Es war kein anderer als Albert Einstein, der einer staunenden Welt kund gab, daß die Zeit im Kontext sog. “Raum-Zeit-Hängematte” relativ sei, daß je nachdem, wie schnell sich die Dinge im Raum bewegen, ihre Zeit verschieden schnell vergeht. Das beliebte diesbezügliche Beispiel der Wissenschaftler, das des Zwilligspaares Ernst und Ernestine, soll die Theorie verständlicher machen: Ernestine begab sich einer Tagesreise durch den Weltraum. Ihre Rakete bewegte sich fast mit Licht-geschwindigkeit. Ernst wartete auf Erden. Als seine Zwilligsschwester zurückkehrte, war ihr Zwillingsbruder einige Jahre gealtert, sie dafür nur einige Stunden älter. Dieses “Zwillingsparadoxon” wie die Wissenschaft es zu bezeichnen pflegt, ergab sich einfach aus der Tatsache, daß Ernestine mit einer derart hohen Geschwindigkeit durch den All geflogen war.
Ein derartiger Flug ist zur Zeit noch ein wissenschaftliches Märchen. Dafür konnte der Relativitätstheorie bis dato nicht widersprochen werden. Viel mehr, die Theorie-welt gegenwärtiger Physik geht noch weiter: Die Zeit als Dimension soll u.U. sogar nicht mehr vorhanden sein. Ein Dasein ohne Zeit, ein Leben ohne zu altern, ein Leben ohne Tod?
An dieser Stelle knüpfen diese Gedanken moderner Wissenschaft zu einem Volksmärchen, zu einem uralten Produkt mythischer Erkenntnis menschlichen Geistes. Es geht um das rumänische Volks-märchen Jugend ohne Altern und Leben ohne Tod (Tinereţe fără bătrâneţe şi viaţă fără de moarte). Der Held des Märchens begibt sich mit seinem beflügelten Schimmel auf Suche nach seiner Prinzessin. Nach einer langen Flugreise, nach zahlreichen Abenteuern und wiederholten Prüfungen findet er sie auf ihr Zauberschloß und lebt mit ihr zusammen etliche glückliche Tage. Eines Tages packt ihn aus welchem Grund auch immer ein nicht zu überwindendes Heimweh. Seine Prinzessin warnt ihn, er lebe nicht mehr in seiner ehemaligen Welt, auf Erden seien viel zu viele Jahre vergangen, seine Eltern könne er auch kaum noch am Leben finden. Der Held nimmt die Warnungen nicht ernst und kehrt mit seinem beflügelten Schimmel in seine Heimat zurück. Die Voraussagen seiner Prinzessin bestätigen sich im Augenblick seiner Ankunft. Das Haus seines Vaters ist zerfallen und verwüstet, seine Eltern schon lange tot. Er selbst hat einen langen, weißen Bart, ist uralt und steht kurz vor seinem Tod.
Die Ähnlichkeit des Volksmärchens zum Wesen “wissenschaftlichen Märchens” des Zwilligspaares Ernst und Ernestine, implizit zur gegenwärtigen wissenschaftlichen Theorie, der der Physik, über Raum und Zeit ist nicht zu übersehen. Und es scheint wieder mal so zu sein, daß das, was die Wissenschaft heute mit den Möglichkeiten der Gegenwart entdeckt, sich dem menschlichen Geist schon lange offenbart hatte. Allein die “Sprachen” bzw. Medien der Mitteilung unterscheiden sich voneinander.
Ein kleiner “Schönheitsfehler” scheint diese inhaltliche Übereinstimmung zu stören: Die Zwillingsschwester Ernestine ist bei ihrer Rückkehr auf Erden auf Dauer wesentlich jünger als ihr Zwillingsbruder, mit anderen Worten, sie ist kaum gealtert. Der Held im Volksmärchen kehrt zurück, altert von einer Sekunde auf die andere und muß gleich sterben. Irrt die Wissenschaft oder das Volksmärchen?
Der moderne Mensch soll es doch genauer wissen können: Er verfügt über zahlreiche Möglichkeiten zu experimentieren. Die Bestätigung durch die Wiederholbarkeit eines Experiments, ist in der heutigen Annahme die kaum zu überbietende Antwort auf den Anspruch auf Wahrheit. So haben die Atomuhren am Bord eines Jumbo-Jets, das im Oktober des Jahres 1971 vom Flughafen Washington zu einer zweimaligen Umrundung der Erde gestartet ist, die Relativität der Zeit eindeutig bestätigt haben. Als das Flugzeug wieder landete, gingen die Uhren tatsächlich um etwa dreihundert Milliardstel Sekunden nach. Ein derartiger Unterschied wird heute in der Praxis der Satellitennavigation auch berücksichtigt. Denn was auf Erden kaum nachvollziehbar ist, könnte im All einige Kilometer Unterschied bedeuten.
Die unmittelbare menschliche Realität oder die “Wahrheit” unseres unmittelbaren Daseinsraumes ist quantitativ und unterliegt der Meßbarkeit. So ist der menschliche Verstand in der Erfüllung seiner existentiellen Aufgaben implizit und unmittelbar auf den quantitativen Vergleich “abgerichtet”. Er unterliegt der finiten, quantitativ-kausalen Logik. Die Annahme ist somit auch quantitativ bedingt. An dieser Stelle knüpft der Gedanke, daß der Mensch als Wesen und in der Tiefe seiner wesentlichen Eigenart jedoch nur besch-ränkt der Meßbarkeit und diesbezüglicher quantitativen Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Ist dann das, was im Tiefsten das Menschliche bestimmt, auch der quantitativen Erkundung und “objektiven” Bestätigung durch Geräte zugänglich? Welche Erkenntnisform, die mit Hilfe von Geräten, die wissenschaftliche also, oder die der mythisch-mystischer Offenbarung hat die am tiefsten weilende “Wirklichkeit” erkunden können? Welcher Ausgang der beiden Geschehen entspricht dann der “letzten Wahrheit”? Der der Ernestine oder der des Helden unseres Volksmärchens? Die Frage bleibt offen. Die “traditionelle” Wissenschaft hat sich mit der Frage qualitativer menschlicher Eigenart, das heißt, mit den tiefgründigen Aspekten, für die die Quantität implizit die Meßbarkeit und Wiederholbarkeit des Experiments irrelevant ist, weniger auseinandergesetzt. Sie hat jedoch, so wie es Fritjof Capra erwähnt, die einen oder anderen Offenba-rungen mythisch-mystischer Erfahrungen irgendwann auf die eine oder andere Art und Weise bestätigen und – fairer Weise – auch zugeben können.
Note
1 Capra, Fritjof, Das Tao der Physik – Die Konvergenz von westlicher Wissen-schaft und östlicher Philosophie, Scherz Verlag Bern, München, Wien, Elfte Auflage, 1989.
2 Capra, Fritjof, aaO., S. 5.
3 Blaga, Lucian, Elanul insulei – aforisme şi însemnări -, Editura Dacia, Cluj-Napoca, 1977, S. 33.