Carmen Elisabeth Puchianu
Transilvania Universität, Braşov, Romania
carmenelisabethp@yahoo.de
Vom Schreiben in der Mausefalle
Zur eigenen Lyrik und Prosa der späten 80er Jahre im Kontext der Diktatur
Eine (selbst)kritische Retrospektive
Writing in the Mousetrap
On Writing Poetry and Prose in the Late 1980s in the Context of Romanian Dictatorship
A (Self-)critical Retrospective
Abstract: The paper contains a retrospective and (self)critical view of Carmen Elisabeth Puchianu’s poetry and prose written under the political dictatorship during the late eighties in Romania. The paper focuses on some strategies of literary camouflage, of specific types of discourse, in order to find an adequate way of dealing with censorship and to avoid major compromises to the system.
Keywords: Romanian Literature; Carmen Elisabeth Puchianu; Poetry and Prose of the 80s; Communist Regime; Nicolae Ceauşescu; Autobiography.
Einleitung
”Ach”, sagte die Maus, “die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, dass ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, dass ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, dass ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.” – „Du musst nur die Laufrichtung ändern”, sagte die Katze und fraß sie.[1]
Kafkas Kleine Fabel erschließt sich einem als Parabelgeschichte der menschlichen Existenz gekennzeichnet durch Ausweglosigkeit und Unfreiheit des Willens: Ganz gleich wofür sich die Maus entscheidet, sie muss notgedrungen mit dem schlimmst Möglichen, nämlich mit dem gewaltsamen Tod rechnen. Oder anders: Das menschliche Dasein ist von vorn herein dazu prädestiniert, ein abruptes und unausweichliches Ende zu finden. Darin spiegelt sich, das könnte man schlussfolgern, die ganze Absurdität des menschlichen Bemühens; und das wird sicher auch aus der Sicht jedes Lesers der westlichen Welt geschlussfolgert/nachvollzogen. Für die Leser allerdings, die bis 1989 hinter dem Eisernen Vorhang leben mussten, hatte die Botschaft der kafkaschen Kleinen Fabel eine weitaus konkretere und demnach auf erschreckend realistische Weise nachempfundene Bedeutung, gestaltete sich ihnen die Alltagserfahrung mehr und mehr zu einer Horrorvision vom Leben in einer Mausefalle, daraus kein Entkommen möglich schien.
Aus heutiger Sicht, zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes in Rumänien, bestätigt die persönliche Erinnerung ebenso wie der biobibliographische Rückblick immer noch nachhaltig jenes äußerst beklemmende Lebensgefühl.
Eine ins System Geborene und die Option für Lyrik
In der Mitte der 50er Jahre geboren, gehört unsere Wenigkeit jener Generation von Autorinnen und Autoren an, die in das sozialistische und kommunistische Zeitalter hineingeboren wurde, darüber hinaus ihre gesamte schulische und hochschulische Bildung unter den Vorzeichen jenes Systems durchlaufen hatte und knapp mehr als drei Jahrzehnte im System gelebt und darin sowohl beruflich als auch schriftstellerisch aktiv geworden war.
Hatte man noch im Schulalter aus guten Gründen und einem naiven Glauben an den fördernden Geist einer gesellschaftlichen Aufgabe heraus die Aufnahme in die Gemeinschaft der Pioniere mit fleißigem Ehrgeiz angestrebt, folgte einige Jahre später die erste Ernüchterung und kritische Einsicht, die glorreichen Ideale der kommunistischen Jugend betreffend: Es mochte sowohl an der eher nüchternen, auf evangelisch-lutherischen Fundamenten beruhenden Familientradition[2], als auch an der siebenbürgisch deutschen Tradition der Schule[3] gelegen haben, die gleichermaßen der eigenen eher kritisch ironischen Beobachtung und Haltung entsprachen und der später bewusst betriebenen Ablehnung der vom System abverlangten politisch ideologischen Implikation der Autorin entgegenkamen.
Als ins System Hineingeborene hatte man am Ende der 70er und vor allem während der 80er Jahre eine beachtliche Reihe von Kompromissen und Zugeständnissen zu machen, wollte man gewissermaßen im System oder dieses gar überleben – an Letzteres wagte man bis kurz vor dem politischen Zusammenbruch des Ceauşescu-Regimes nicht wirklich glauben.
Man hatte sich zunächst mit den Anforderungen des Systems so weit zu arrangieren, als man zum Beispiel dem damaligen Prozedere gemäß, den einem auf Grund mehr oder weniger undurchschaubarer Mechanismen zugewiesenen Arbeitsplatz anzunehmen und diesen termingerecht anzutreten. In den meisten Fällen wurden auf diese Weise junge Intellektuelle, geborene und eingefleischte Städterinnen und Städter, mit politischer Absicht aufs Land und möglichst weit von zu Hause versetzt, so dass man unter Umständen in einem kulturell völlig fremden Umfeld zu arbeiten und zu leben hatte. Das Gefühl der Entwurzelung und der Verfremdung, der Verzweiflung und der Hilflosigkeit bewirkte einerseits ein krampfhaftes Bemühen, zu sich selbst zu finden, indem man Gedichte schrieb, wo immer man sich befand. Die Option, am Anfang der 80er als Lyrikerin mit Gedichten in deutscher Sprache an die Öffentlichkeit zu treten[4], muss auch auf diesem biographischen Hintergrund verstanden werden: Die Arbeit als Englischlehrerin im rumänischen Dorf Filipeşti de Târg im Kreis Prahova, das Leben im Dorf während der ganzen Woche und das Pendeln am Samstag aus Filipeşti nach Kronstadt und am Montag aus Kronstadt wieder zurück nach Filipeşti unter keineswegs einfachen oder überaus komfortablen Bedingungen veranlassten einen zu poetischen Äußerungen, die heute vielfach dokumentarischen Wert haben. Anstelle von Tagebuchaufzeichnungen, nutzt die Autorin den lyrischen Text um anhand konkreter Alltagsbilder und -erlebnisse nicht nur die eigene Seelenlandschaft zu entwerfen, sondern darüber hinaus auch die allgemeine Befindlichkeit der erlebten Zeit fest zu halten. Hierzu lediglich ein nicht weiter kommentiertes Textbeispiel in Auszügen:
[…] Dieser Mann da hätte nicht das weiße Hemd/ zum dunkelblauen Anzug anziehen dürfen, / nicht heute – eher gestern/ oder gar nicht./ Ich sehe ihn an – er ist Fremder hier.// In meiner Heimatstadt// Im vierer Trolleybus/ sitzt das gestrige Hochzeitsgefolge:/ sie sehen alle müde aus, übernächtigt, verkatert, um 8 Uhr 20,/die Paten ( sǎ trǎieşti, naşule!),/[…] sind – heute, am Montag – zufrieden/ und fahren nach Ploieşti.// Mit meinem Zug.// […] Menschenschlange bei den Karten:/ 22 Lei bis Floreşti, /morgens um 8 Uhr 30, /Schlange um 3, meine Großmutter: die Zwanzigste.// Sie trinkt gerne Milch.// […] Ich finde das englische Wort dafür:/shit.// Was haben die Leute bloß zu quatschen, /ich will Ruhe haben und schlafen bis Floreşti./Ich will nicht mehr – höchstens weniger./Am Abend – das ahne ich – werde ich Pfeife rauchen.//[5]
Die rumäniendeutsche Lyrik der 80er Jahre im Allgemeinen und jene unserer Wenigkeit im Besondern stand in der 80er Jahren im Zeichen einer eigenartigen Doppelbödigkeit: Zum einen war man kompromisslos bereit entweder vermittels nüchterner Kargheit oder vermittels stark ins Metaphorische verdichtete Diskurse der rumänischen Realität gegenüber Stellung zu beziehen und sich mehr oder weniger verdeckt vom System zu distanzieren. Man vermochte sich vor allem durch den Rückzug ins Private, ins Erotische und in das etwas Anrüchige einer mit Absicht gepflegten Promiskuität den Anforderungen des sozialistischen Apparates zu entziehen.
Man bediente sich intertextueller Bezugnahmen, vor allem in Anlehnung an Dichter der amerikanischen Moderne und Postmoderne[6] oder, in Einklang mit der Vorliebe vieler rumäniendeutscher Autorinnen und Autoren der jüngeren Generation, in Anlehnung an Brechts kritisch engagierten Lyrik.[7] Als verfremdendes Mittel setzte man immer wieder gern fremdsprachliche Titel[8] und mitunter englische oder rumänische (später auch ungarische) Wörter in die Gedichttexte ein.[9]
Wenn man sich schon nicht bedingungslos den offiziellen ideologisch politischen Anforderungen unterwerfen wollte, galt es trotzdem, sich zum Schein mit ihnen zumindest so zu arrangieren, dass man schreiben und publizieren, dass man Lesereisen mitmachen und in Anthologien aufgenommen werden konnte, um schließlich irgendwann zumindest den Versuch zu unternehmen, einen Eigenband veröffentlicht zu bekommen.[10]
Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass man in den 80er Jahren sozusagen mit der Schere im Kopf Texte zur Veröffentlichung auswählte, selbst wenn man sich auf die Strategie von Zeitschriftenredaktionen und Verlagen weitgehend verlassen konnte.[11] Dazu hegte man als Deutsch Schreibende(r) in Rumänien die Hoffnung, man würde durch die Sprache der (politisch ideologischen) Zensur eher entkommen – es war sicherlich eine völlig falsche Hoffnung, aber sie gab einem viel Mut!
Die 1988 erschienene Lyrikanthologie Der zweite Horizont[12] widerspiegelt unserer Meinung diese beinahe schon an Schizophrenie grenzende Doppelbödigkeit jeder einzelnen Autorenhaltung: Jedes der fünf Segmente der Anthologie beginnt mit einigen Gedichten, die wir heute gern als „Gelegenheitsgedichte” bezeichnen wollen und die den vier Autorinnen und dem einzigen Autor vom zuständigen Lektor telefonisch abverlangt worden waren, um das Erscheinen der Anthologie als Ganzes nicht zu gefährden. Man arrangierte sich schließlich mit dem Gedanken und verfasste einige Friedens- und Heimatgedichte, um nicht gravierendere Zugeständnisse an System und Diktator machen zu müssen.[13]
Wie bereits in einem andern Beitrag festgehalten[14], reflektieren die Texte der Anthologie sowie jene in der NL bzw. in Einzelbänden[15] das bewusste Abdriften der Autorinnen und Autoren von den Positionen einer dezidierten Systemtreue in Richtung einer der engagierten Subjektivität entsprechenden Position, die auf einen ersten Blick eines eindeutig politischen Standpunktes zu entbehren schien, jedoch anhand belangloser Vorkommnisse des sozialistischen Alltags diesen kritisch durchleuchteten und bloßstellten.
Bislang unveröffentlichte Gedichte und Tagebuchaufzeichnungen aus den Endachtzigern dokumentieren die massive Verschärfung der Vereinnahmung aller Lebensbereiche und im Besondern des künstlerischen und literarischen Ausdrucks. Seelische Zerwürfnisse der Autorin werden notiert, hervorgerufen durch die Rationierung von Lebensmitteln, durch die frühe Sperrstunde und fehlende Genussmittel in Kneipen, durch die abendlichen Stromsperren als ökonomische Sparmaßnahmen und nicht zuletzt durch die regelmäßige Abgabe von Maschinenschriftproben bei der „Miliz”, um eine „autorizaţie”, eine Bescheinigung für den rechtmäßigen Besitz und Gebrauch der eigenen Schreibmaschine für das laufende Jahr zu erwerben. Der Tenor der Angst und der Verzweiflung über das Leben in der kommunistischen Mausefalle dominiert, wie den meisten Gedichten und Aufzeichnungen abzulesen ist.[16]
Die Wende zur Prosa
Auf Grund der weiter oben angeführten Gegebenheiten bevorzugte man bis weit ans Ende der 80er Jahre den lyrischen Diskurs. Die Prosa war Tagebuchaufzeichnungen und Werknotizen vorbehalten, obschon die literarischen Präferenzen der Autorin grundsätzlich der erzählenden Literatur galten. Man las ausschließlich Romane der deutschen und englisch-amerikanischen Moderne und Postmoderne, mitunter auch kontroverse Neuerscheinungen der rumänischen Epik.[17] Den textproduktiven Zugang zur erzählenden Literatur in Form von Kurzgeschichten und kürzeren Erzählungen erlangte man im Zuge der sich verschlechternden Lebensbedingungen gegen Ende der 80er Jahre unter dem zunehmenden Druck der Angst und der meist im Privaten geäußerten und daher stummen Auflehnung gegen die verabsolutierte Präsenz des Staatsführers als anzubetendes und lobzupreisendes Über-Ich. Um die Phobien und paranoiden Erfahrungen der kommunistischen Diktatur darzustellen, reichte der sich oft verknappende und auf jeden Fall metaphorisch verkappte Diskurs des lyrischen Gedichtes nicht mehr aus. So entstanden erste Prosatexte, die unmittelbar mit dem damals betriebenen Heroenmythos und Personenkults um Ceauşescu in Verbindung stehen und eine bemerkenswerte Verdrehung oder besser, Umkehrung dieses Mythos widerspiegeln. Es handelt sich um die Kurzerzählungen Das Denkmal, Das Haus des hohen Herren und Geschichte vom kleinen Mann. Geschrieben wurden die drei Texte im Zeitraum Februar – November 1989, wie den Angaben am Ende jedes Textes sowie einigen Tagebuchaufzeichnungen abzulesen ist.
Bislang unveröffentlichte Werknotizen und Tagebuchaufzeichnungen geben Auskunft sowohl über die allgemein sich verschlechternde Lebenssituation in Rumänien, über die Auswanderung von nahen Verwandten, Freunden und Bekannten, über die sich verschärfende Kontrolle und vor allem über den Zustand der Angst, verursacht vor allem durch das Wissen, unweigerlich festgehalten, in jeder Bewegung eingeschränkt und ständig beobachtet zu sein.
Es dünkt mich, wir werden doch noch historische Augenblicke durchleben. Es muss diesem Hundsfott letztendlich an den Kragen. Seit Tagen begehren die Temeswarer auf, heute auch die Bukarester. Es soll geschossen werden u. es gibt Tote. Nachmittag auch in K. Unruhen. Endlich. Mutti u. ich sind nervös, von innerer Unruhe geplagt. Ich würde dabei sein, denn alles widersteht mir. Andererseits ist man von Angst beherrscht, denn die Macher kennen nur ein Mittel – Macht und Terror.[…] Der Verrückte schwingt Reden u. klammert sich an jede nur erdenkliche Möglichkeit zu bestehen. Es sind noch viel zu viele, die ihm zur Seite stehen. Ich befürchte schlechte, schwere Zeiten. Und nichts tun dürfen! Schreiben. Hoffentlich wird das ein Mittel. Noch gehören die Medien IHM. […] Man steckt mitten drin u. ist mit Schuld an allem. Am meisten an der eigenen Hilflosigkeit. Man müsste sich Gehör verschaffen können, den Mut dazu aufbringen. ( 21.XII.1989/K[ronstadt])[18]
Die Aufzeichnung dokumentiert mehr als nur die persönliche Befindlichkeit der Autorin einen Tag vor dem Ausbruch der rumänischen Revolution gegen Ceauşescu und das kommunistische Regime in Rumänien. Einen Monat später erscheinen weitere Aufzeichnungen, die über den Zustand der Autorin Aufschluss bieten vor allem auch im Hinblick auf die genannten Prosatexte.[19] Im dritten Doppelheft der NL (5-6) 1990, nachdem in Rumänien das verhasste Diktatorenehepaar nicht nur gestürzt, sondern während einer Direktübertragung des rumänischen Fernsehens exekutiert worden war, wurden die genannten Texte veröffentlicht, die auf Grund der weiteren Entwicklungen und vor allem durch den massiven Exodus der Rumäniendeutschen längere Zeit keine größere Beachtung gefunden haben[20].
Im Fall der drei Texte handelt es sich um frühe Versuche der Autorin, sich auch in der Prosa zu etablieren. Sprachstilistisch stehen die Texte unter dem Einfluss der von der Autorin damals enthusiastisch betriebenen Thomas-Mann-Nachfolge. Einiges zeugt heute von unreflektierter Übernahme und epigonaler Nachahmung, was uns bewogen hat, die Texte notwendigerweise zu überarbeiten.[21] Atmosphärisch sind die Texte ebenso der Prosa von Kafka wie Brecht verpflichtet. Jedem Text liegt ein konkretes Faktum zu Grunde, so dass mitunter der Eindruck starker Vordergründigkeit entsteht.
Der Denkmal-Text widerspiegelt die öffentlich angeforderte Bemühung um die Errichtung monumentaler Sinnbilder zum Lobe vaterländischer Heroen, und wurde genährt von dem am Ende der 80er immer lauter werdenden Gerücht, man beabsichtigte in der Kron- und zeitweiligen Stalinstadt ein Ceauşescu Denkmal zu errichten, sozusagen als unmissverständliche Vereinnahmungsmaßnahme der Stadt durch den Diktator. Die figürliche Idee zum Denkmal selbst wurde der Autorin damals durch Zufall auf der Straße durch eine vorbeilaufende Hündin suggeriert.[22] In der Denkmal-Geschichte wird durch unverhohlen ironische Formulierungen auf Führermythos und Personenkult angespielt, ohne allerdings eine sehr genaue Bezugnahme auf rumänische Realien der damaligen Zeit auszuformulieren.[23]
Das Haus des hohen Herrn (datiert 10.-23.01/27.04.1989) entstand auf Grund eines Reiseberichts von Freunden, die zufällig während einer Fahrt in den Süden des Landes nach Scorniceşti, dem Heimatdorf von Ceauşescu, gelangt waren, wo es außer dem prächtig heraus geputzten Geburts- und Elternhaus des Diktators nichts weiter zu sehen gab. Ohne selber vor Ort gewesen zu sein, gelingt der Autorin in der Erzählung eine überaus genaue Beschreibung sowohl des Hauses als auch der dort herrschenden Stimmung, Letztere gekennzeichnet von Bedrücktheit und Verängstigung, wie die gängige Stimmung in Rumänien am Ende der 80er Jahre eben war.
Die Figur des „hohen Herrn”, eine wenig verfremdete Metapher für den Diktator, bleibt körperlich zwar abwesend, aber sein Schatten liegt in der Luft, schwebt bedrohlich über allem, so dass die in ganz Rumänien am Ende der 80er Jahre erlebte Absurdität die skurrile Geschichte beherrscht. In den Vordergrund rückt ein Reisender, der sich in das Dorf verirrt, dort einer greisen Gänsehirtin begegnet, die das Haus des hohen Herren zu versorgen hat und sich als Mutter des zu Höherem Berufenen ausgibt. Am Ende wird alles relativiert, die Identität der Frau wird scheinbar richtiggestellt, und der Fremde wird hastig zum Aufbruch gedrängt.[24]
Geschichte vom kleinen Mann (datiert 6.- 22. November 1989) zählt zu den wenigen Texten, in denen die Autorin direkt an die Diktatorenfigur Ceauşescus anknüpft, indem dem offiziellen Mythos der Größe und Genialität eine groteske Verkehrung entgegengehalten wird. Der kleine Mann, dessen Geschichte erzählt wird, fällt vor allem deswegen auf, weil er nicht auffällt, weil er zu klein geraten ist, um auf irgendeine Weise beachtet werden zu müssen.[25] Die Figur des kleinen Mannes verkörpert den literarischen Versuch, jene vertrackten Mechanismen zu ergründen, die einen Unscheinbaren dazu veranlassen, eine ganze Welt in Angst und Schrecken zu versetzen und das eigene Gebrechen zum Werkzeug der Macht über die andern zu machen.
Der Kleinwüchsige entwickelt sich zunehmend zum Schrecknis aller, indem er seine Mitmenschen damit geißelt, dass er ihnen jedes Mal noch etwas kleiner und unheimlicher erscheint. Begriffe wie „kleiner Kobold”, „Unhold”, „Scharlatan” oder „Trugbild ihres Grauens” widerspiegeln Empfindungen, die man am Ende der 80er dem rumänischen Diktator und seinen Gefolgsmannen gegenüber hegte. Schließlich nimmt das Ende der Geschichte auf groteske Weise den letzten groß inszenierten Auftritt Ceauşescus vorweg.[26]
Fazit
Aus eigener Anschauung lässt sich unser Fazit wie folgt auf den Punkt bringen: Das Schreiben in der kommunistischen Mausefalle nötigte einem viel an dichterischer Versiertheit, an Geschick zur Dissimulation und an subversiver aber durchaus poetischer Hinterhältigkeit ab, um dem System halbwegs zu trotzen und sozusagen aus dem eigenen Nischendasein heraus, das System zu untergraben.
Anmerkungen
[2] Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Autorin in einer multikulturellen Familie groß geworden ist, in der die siebenbürgisch sächsische Tradition und die evangelisch lutherische Kirchenzugehörigkeit der mütterlichen Familie ausschlaggebend für die Entwicklung der Autorin gewirkt haben. Obschon sie gleichzeitig drei Sprachen erlernen konnte (die deutsche, rumänische und ungarische Sprache), sah sie von klein auf die deutsche als ihre Muttersprache an.
[3] Die Autorin besuchte von der ersten bis zur achten Klasse die Abteilung mit deutscher Unterrichtssprache der Allgemeinschule Nr. 14 in Kronstadt und anschließend das Johannes Honterus Lyzeum, das 1971 in Folge eines Präsidialdekrets als deutschsprachige Schule wieder ins Leben gerufen worden war.
[4] Man hatte Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre außer in deutscher auch in rumänischer und sogar in englischer Sprache geschrieben – Letzteres auf Grund des in Bukarest abgeschlossenen Anglistikstudiums. Ein erster lyrischer Versuch der Autorin, der Gedichttext Sonnenblumen, wurde 1973 in der Schülerzeitung der Honterusschule Debüt und Debatte (Beilage der Karpaten Rundschau vom 6.04.) veröffentlicht, 1980 fand ihr eigentliches Debüt mit dem Gedichttext Geschichte im Novemberheft der Literaturzeitschrift Neue Literatur (Bukarest) statt. Danach kam es zu weiteren periodischen Erscheinungen in den Ausgaben der NL (zunächst in der Rubrik Junge Autoren), bzw. KR. Der erste Eigenband erschien 1991 unter dem Titel Das Aufschieben der zwölften Stunde auf die dreizehnte (Cluj-Napoca: Dacia).
[6] Häufig anzutreffen sind Anspielungen auf und intertextuelle Übernahmen von Wallace Stevens und Franz O’Hara (vgl. Puchianu: „Postkarte an Frank O’Hara“. In: Das Aufschieben der zwölften Stunde auf die dreizehnte. S.70).
[8] Vgl. Puchianu: Soulscape I (In: Das Aufschieben der zwölften Stunde auf die dreizehnte. S. 80), „Ineluctable Modalities“ (z. Z. unveröffentlicht), Dependent the Poet (In: Verortete Zeiten. Kronstadt: Aldus, 2008, S.70-71), u.a.
[9] Vgl. Puchianu: English Teacher in the Countryside (In: Das Aufschieben der zwölften Stunde auf die dreizehnte. S. 42) und Commuter’s Monday Morn’ (In: NL 1/1982, S. 23).
[10] Dem üblichen Prozedere entsprechend, wurden junge Autorinnen und Autoren zunächst in Sammelbänden veröffentlicht. Vgl. Carmen Elisabeth Puchianu: „Ich trage den Panzer der Verschwiegenheit… “ Schreiben in der Diktatur. Zum Stellenwert der Debütanthologie Der zweite Horizont (1988). In: Literatur im Streiflicht. Kronstadt: Aldus 2009, S.103 ff.
[11] Die Redaktion der Neuen Literatur hatte eine äußerst geschickte und diplomatische Strategie entwickelt, indem sie auf den ersten Seiten jeder Ausgabe Auszüge aus den gerade aktuellen Parteidokumenten bzw. zurecht gemachte Huldigungsverse veröffentlichten, um in den „Innenseiten“ die eigentlich oppositionelle Literatur an die Leser zu bringen. (Vgl. hierzu auch Carmen Elisabeth Puchianu: Zwischen Linientreue und Opposition. Bemerkungen zur rumäniendeutschen Lyrik der 80er Jahre in der Zeitschrift Neue Literatur. In Literatur im Streiflicht, S.59-84). Ähnlich wurde auch von anderen deutschsprachigen Publikationen verfahren.
[13] Vgl. Der zweite Horizont. Cluj_Napoca: Dacia, 1988. Hella Bara: Wortburg Heimat, (S. 5), Hanna Böhlen: Heimat Liebe (S. 30), oder Carmen Puchianu: Mein Land (S. 96).
[14] Vgl. C.E. Puchianu: „Ich trage den Panzer der Verschwiegenheit… “ Schreiben in der Diktatur. Zum Stellenwert der Debütanthologie Der zweite Horizont (1988). In: Literatur im Streiflicht. Kronstadt: Aldus 2009, S.103- 114.
[15] Vgl. Juliana Modoi: Entscheidendes Spiel und Helmut Britz: Schorfeis / Gedichte. beide Cluj-Napoca: Dacia, 1989; C. Puchianu: Das Aufschieben der zwölften Stunde auf die dreizehnte. Cluj_Napoca: Dacia, 1991.
[16] Hierzu nur ein Beispiel aus Manuskriptheft Nr. 5, 28. IV. 985/K[ronstadt]: „Träume lasten schwer über mir und reißen mich in Stücke. Die Angst vor der Dunkelheit verdränge ich ins Leere der Angst im Alleinsein.“
[17] In den Filipester Jahren befasste sich die Verfasserin sowohl mit der Lektüre von Joyces Finnegans Wake als auch mit jener einiger Romane von D.R. Popescu (z. B. Vânǎtoare regalǎ).
[18] C. E. Puchianu: Manuskriptheft Nr. 6, November 1989- Dezember 1995, Aufzeichnung vom 21.XII. 1989, bislang unveröffentlicht.
[19] „Kälte – innerliche wie äußerliche – droht mich zu erdrücken. Ich kann nicht mehr, ich darf nicht mehr mit meinem Wort hinter dem Berg halten. Vier Prosatexte für die NL vorbereitet, zwei davon dürften, durch ihre möglicherweise zu betonte Vordergründigkeit, Schwierigkeiten bereiten. Mein Entschluss steht jedoch fest. Es geht nicht anders.“
20. Dezember – K.
Mit Bangigkeit im Herzen heute die Prosatexte an die NL abgeschickt. Sie gehören mir nicht mehr. Möge sich ihre Geschichte, wie beabsichtigt, zutragen. Ich gebe zu, noch zweifle ich an der Richtigkeit dieses Entschlusses. Wie immer, ich kann und will nichts rückgängig machen. Der Augenblick, aus jeder Form der Zurückhaltung hervorzutreten, ist, wie mir scheint, fällig.“ (C. E. Puchianu: Tagebuchaufzeichnungen statt einer Reportage. In: NL 1-2/1990, S. 41.
[20] Durch die ziemlich baldige Einstellung der Zeitschrift Neue Literatur bzw. durch deren Aussiedlung nach Deutschland verlor die in Rumänien verbliebene deutschsprachige Literatur ein wichtiges Sprachrohr.
[21] Der Text Das Denkmal wurde bereits 2007 in überarbeiteter Fassung in den Erzählungsband Der Begräbnisgänger, (Passau: Stutz) aufgenommen.
[22] An sich nichts Nennenswertes, angesichts der, wie man sich erinnert, in jenen Jahren erschreckend großer Zahl vagabundierender Hunde. Das Besondere an jener Hündin war allerdings die Tatsache, dass das unglückselige Tier nur drei Beine hatte, dafür aber hoch trächtig war.
[23] „Irgend jemand hatte beschlossen, die Stadt dürfe sich nicht mit dem Vorhandenen bescheiden und sich dem Fortschritt entziehen. Vielmehr benötige sie ein Wahrzeichen, wie es alle Städte, die etwas auf sich hielten, hatten. Dafür kam einzig und allein ein Denkmal in Frage[…] Der Wald wurde gerodet, wobei es nicht darauf ankam, dass auch einige bescheidene Häuser abgerissen wurden. […] nun geriet alles ins Stocken. Man konnte sich nicht darüber einigen, was das Denkmal darstellen sollte.[…] Eine zeitgenössische Figur sollte es sein, obgleich jeder wusste, dass außerordentliche Verdienste erst nach dem Tod denkmalwürdig wurden. Hierüber ergaben sich weitere Debatten. Persönlichkeiten gab es jedenfalls genug, von denen hätte jedoch nur eine für das Denkmal ausgewählt werden können. Ob ein Politiker oder ein Künstler in Frage käme, war noch zu klären. Es war keine Lösung in Aussicht.“ (Vgl. C.E. Puchianu.: Das Denkmal. In: Der Begräbnisgänger, Passau: Stutz, 2007, S. 8).
[24] „Ohne auch nur im Geringsten ihre Lage zu verändern, […] brachte [sie] ihre Worte und Sätze gedämpften Tones und unter vorgehaltener Hand hervor […] Ob sie es zufrieden seien, wollte er [der Reisende] wissen. […] Nur undeutlich und mit fast geschlossenen Lippen gab sie ihm Antwort: Wer konnte es, gerechter Gott, zufrieden sein, vom eigenen Sohn vergessen und verlassen, gelegentlich mit faulem Fleisch abgespeist und, wie ein altes Möbelstück zur Besichtigung vorgenommen zu werden. […]
Sein Gruß wurde überhört, jemand öffnete für ihn die Wagentür und vier, fünf Hände beförderten ihn schleunigst in das Innere des Fahrzeuges. Allem Anschein nach hatte man es überaus eilig, den Fremden loszuwerden. Auf seine hastig hervorgebrachte Frage nach der Alten erhielt er den Bescheid, sie sei die Dorfnärrin, hielte sich für des Erhöhten Mutter […]. Längst wäre ihre Einlieferung in eine Anstalt fällig, doch habe […] der hohe Herr selber die Lösung gefunden und das Haus der Alten auf Abriss gesetzt […]“ (C.E. Puchianu: Das Haus des hohen Herren. Überarbeitete Fassung).
[25] „Ein alltägliches Gesicht trug er, wie jeder zweite Bürger seiner Stadt. Er verbarg sein schütteres Haar meistens unter einem nichtssagenden Hut, der sich durch gar nichts von jenem seines Nachbarn unterschied […]; kurzum, er hätte ohne weiteres einen vorbildlichen Durchschnittsbürger abgegeben, wäre er nicht geradezu durch seine Unauffälligkeit augenfällig geworden. Eine gewisse an Dürftigkeit grenzende Unscheinbarkeit haftete seiner Erscheinung an, die nicht etwa von Kleidung oder Haltung ausging, vielmehr der Gestalt an sich eigen war. Denn, obzwar nicht im geringsten verunstaltet oder missgeschaffen, war er von äußerst kleinem Wuchs. So kleinwüchsig war er, dass man ihn, in so fern man ihn nicht vollkommen übersah, für einen zierlichen Knaben hätte halten können.[…]“ (C.E. Puchianu: Geschichte vom kleinen Mann. Überarbeitete Fassung).
[26] Die Leute kamen wie zu einer Zirkusvorstellung, zum Aufbruch bereit, falls das Spektakel nicht befriedigend ausfallen würde. Viele waren der Meinung, der Scharlatan würde gar nicht erscheinen, andere wieder erhofften sich die Lösung eines Rätsels und das Ende eines Spuks; nur ganz wenige befürchteten eine peinliche Enthüllung […] Zur abgemachten Stunde befand sich der kleine Mann nicht zur Stelle. […] Wagte es der Schelm tatsächlich, sich derart zu erdreisten, sich derart zu vermessen, indem er sie alle zum besten hielt? Durfte ein Einzelner nicht erscheinen, wenn eine ganze Stadt sich zusammengefunden hatte und seiner harrte? Schimpfreden wurden laut, Gereiztheit machte sich breit, und in den hintersten Reihen kam es sogar zu Handgreiflichkeiten, als ein Schatten, leicht und leise, über den Mittelgang des Saales strich, sich auf das bühnenartige Podium hin bewegte, wo er, ebenso leicht und leise, innehielt.
Er war also doch erschienen […] Er warf demütige, flehentliche Blicke um sich, schien um Nachsicht zu heischen, stand in sich zusammengesunken auf dem Podium, der Schatten seiner selbst. Und die lärmende Menge verstummte, starrte gebannt und mit offenen Mündern auf das Trugbild ihres Grauens.
Der Mann lachte herzhaft. Zum ersten Mal in seinem Leben. (C. E. Puchianu: Geschichte vom kleinen Mann. Überarbeitete Fassung).