Lukács Andrea
Die ungarische Kant- und Schopenhauer-Rezeption
im Spiegel der Acta Comparationis Litterarum Universarum
Der erste Teil des vorliegenden Referats gibt – anhand von Beiträgen aus der Zeitschrift „Acta comparationis litterarum universarum“ (ACLU) – einen Überblick über die Kant-Rezeption der ungarischen Aufklärung. Der zweite Teil untersucht die Beiträge, die in der gleichen Zeitschrift Schopenhauer gewidmet sind.
Kant definierte die Aufklärung als: “Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.”
Die Kantsche Definition bezeichnet mit dem Begriff Aufklärung ein Denkverhalten. Sie betont die Selbstständigkeit des Denkens und meint, dass die Bedingungen dazu auch vorher schon vorhanden waren, dass bloß der Entschluss und der Mut dazu fehlte.
Die Aufklärung hat sich in ganz Europa verbreitet, und die bürgerliche Ideologie wurde in den rückständigeren Ländern, wo kaum ein Bürgertum existierte, – wie z. B. in Ungarn – vom Adel vertreten.
Die erste Möglichkeit, die in Ungarn zur Verbreitung von aufklärerischen Ideen führte, war der siebenjährige Krieg: die ungarische Armee ist mit neuen Vorstellungen aus dem Krieg zurückgekehrt. Die zweite Möglichkeit war die Wirkung der französischen Ideen durch die Vermittlung Wiens, wo sich viele ungarischen Adelige als Leibwächter Maria Theresias aufhielten. Drittens ist an die unmittelbare Wirkung der revolutionären Ideen an deutschen Universitäten zu denken. Die ungarische adelige und bürgerliche Jugend und die Jugendlichen des siebenbürgisch-sächsischen Bürgertums haben in Halle, Jena und Göttingen Kants Philosophie kennen gelernt. Nach ihrer Heimkehr waren sie an Universitäten, Hochschulen, als Journalisten oder in der wissenschaftlichen Forschung tätig und übten einen großen Einfluss auf die ungarische Jugend aus.
Mit der Rezeption der Kantschen Ideen hat die ungarische Aufklärung die ideologische Epoche der französischen Wirkung überschritten und verpflichtete sich den universalen menschlichen Fortschritt zu fördern.
Ein besonderes Merkmal der ungarischen Kant-Rezeption ist, dass die Anhänger der Kantschen Ideen und Grundsätze – Stefán Márton, Sámuel Köteles, Péter Bárány, Ferenc Kazinczy, Ferenc Kölcsey – die kritischen Gedanken Kants nicht nachgeahmt haben, sondern sich das Menschenbild der Aufklärung, das Satreben nach einer bessernden Moral, nach Harmonie aus Kants Werk angeeignet haben. Die Akzeptanz dieser Philosophie geht nicht auf einen Befehl von oben zurück, sondern auf einen Entwicklungsprozess und auf innere Überzeugung.
Nicht zu übersehen ist, dass die Aufnahme der Kantischen Philosophie in Ungarn auch von einem anderen Faktor beeinflusst worden ist: und zwar dadurch, dass diese Philosophie einen Ausgleich zwischen Mythos, Religion, Philosophie und Kultur anstrebt. Nach deutschem Muster begann auch die ungarische Aufklärung ihre kulturellen Traditionen und Werte zu entdecken, denn dieser Auffassung zufolge hebt sich die Volkskultur nicht von der Elitekultur ab. (2)
Gehen wir jetzt auf die drei Artikel aus der ACLU ein, welche die ungarische Kant-Rezeption behandeln. Die ersten zwei sind von Lomnitz (das ist Hugo Meltzl von Lomnitz), der dritte von Peter Gerecze gezeichnet und sind “zum centenarium der Kritik der reinen Vernunft” (3) erschienen. “Beiträge zur Geschichte der Kritik der reinen Vernunft in Ungarn” ist der Titel des ersten Artikels, und dieser gibt uns einen kritischen Überblick über die wichtigsten Kant-Anhänger bzw. Kant-Gegner in Ungarn und ihre Werke. Zu diesem Anhängerkreis gehörte Stefán Márton, der 1831 Professor war und an der Cholera starb und dessen lateinische Übersetzung des Krugschen “System(s) der kritischen Philosophie” ein überaus originelles Titelblatt aufweist:
D. O. M. S.
Philosophiae Criticae Conditori
IMMANVELI KANT
Grata Posteritas
L. M. Q. P.,
das gerade belegt, “dass Kant nirgend in der Welt begeistertere Anhänger gefunden haben mag, als auf magyarischem Boden.” (4)
Wichtig ist, dass das “epochemachende Licht Kants in die magyarische Philosophie erst aus Siebenbürgen gedrungen ist.” (5) Diese Tatsache hängt damit zusammen, dass die Verbreitung der Kantschen Philosophie in Ungarn durch eine Regierungsverordnung verboten wurde. Später, als das Verbot abgeschwächt wurde, ist die Verarbeitung der Kantschen Philosophie fortgesetzt worden. So gesteht Kazinczy, “der congenialste aller magyarischen Kantianer” (6), der die ungarische Literatur in eine neue Dimension gehoben hat, dass sein Meister in der Kantischen Philosophie der Tordoser Pfarrer, Paul Sipos, war. Kazinczy preist sein Werk in einem Brief mit folgenden Worten: “Dein in lateinischer sprache abgefasstes göttliches werk (über Kant) habe ich zur hand; vor freude jauchzt meine seele, so oft ich es lese.” (7) Die Kantschen Ideen haben auch in der Sprachpflege Eingang gefunden. Kazinczy, der in der Bewegung der Sprachneuerung eine führende Rolle spielte, verwendete bei der Begründung der Bedeutsamkeit der Spracherneuerung auch ästhetische Grundsätze Kants. Seine Spracherneuerung gestaltete sich im Zeichen des humanistischen Sprachideals.
Ein anderes Zentrum der Kant-Rezeption war die Marmaros-Szigether reformierte Schule, die erste Institution in Ungarn, wo die Philosophie im Geiste Kants vorgetragen wurde – dank Michael Nánási, der bereits 1797 Kantianer wurde.
Stefán Márton, der schon erwähnt wurde, brachte auf der berühmten reformierten Akademie zu Pápa die Kantsche Schule zustande. Er hatte viele Gegner zu bekämpfen, z. B. Ferenc Budai, der ein unterhaltsames Buch veröffentlicht hat unter dem Titel “Reuter der Kantischen Philosophie” (Pressburg, 1801). Das Buch wird folgendermaßen gekennzeichnet: “Übrigens streift in diesem büchlein die polemik gegen Kant oft an das kindischest burleske und es ist fast zu bedauern, dass sich niemand gefunden hat, der dem greisen Kant die letzten lebensjahre durch eine treue verdeutschung noch heiterer gemacht hätte, als sie ohnehin schon waren.” (8) In einem bestimmten Punkt stimmt er aber Budai zu: “Aber im grunde genommen hatte Budai recht, dass er den terminus (Ding-an-sich) unverändert herübernahm, wenn er auch keine ahnung von dem richtigen motiv besass, welches auf dem wahren sachverhalt beruht, demzufolge der deutschen sprache in der weltphilosophie dieselbe rolle zukommt, wie der italienischen in der internationalen musiklitteratur, dem französischen im diplomatischen, dem englischen im mercantilen weltverkehr. Ich glaube: Kants und Schopenhauers sprache hat alle ursache die europäischen schwestern um ihre rollen nicht zu beneiden, so lange die philosophie königin der wissenschaften bleibt.” (9)
Diese Zitate beweisen schon, dass die Behauptung des bekannten Schwartner in seiner auch in Deutschland verbreiteten Statistik nicht stimmt: “Nur die Kantische Philosophie, deren Studium durch ein K. Statthalterey Intimat vom 19 Junius 1795, auf allen catholischen Lehr-Anstalten verbothen wurde, fand auch ohne Verboth in ihre (der Reformierten) Schulen keinen Eingang.”(10) Als Gegenbeispiel zu dieser Feststellung führt Meltzl-Lomnitz den bekannten Aureliusz Fessler an, der als Wiener Kapuziner “auch ein Opfer seiner Vorliebe für Kant geworden war.” (11)
Der zweite Artikel von Meltzl-Lomnitz ist ein neuer Beitrag zur ungarischen Kantliteratur. Er beweist die Existenz des transzendentalen Idealismus in der Volkspoesie anhand von Siebenbürger Volksrätseln. Meltzl bemängelt Herbarts durchaus prosaische Natur, der es entgeht, dass “gerade die vergleichende volksliederkunde unzählige belegstellen bietet für die transcendentale aesthetik und die Kantische metaphysik überhaupt.” (12) Es kann aber für Herbart als Entschuldigung dienen, dass “das unendliche wissensgebiet, welches der grosse Goethe als <weltliteratur> prophetisch ahnend vorher verkündet hatte, das heute die praktischen Engländer <Folklore>, die unpraktischen Berliner professoren <Völkerpsychologie> getauft haben, und das nur diesen einen wissenschaftlich berechtigten, weil unzweideutigen namen tragen dürfte: Vergleichende Litteraturgeschichte (…), war eben zu Herbarts zeiten noch nicht vorhanden, wie es für die mehrzahl sogar der sprachforscher Europas bis heute eine unbekannte grösse geblieben zu sein scheint.” (13)
Meltzl spricht mit Begeisterung über diese neue Wissenschaft, die “comparatio litterarum”, welche dem “consensus gentium” nachspürt und die Gesetze der Weltliteratur mit kritischer, “naturwissenschaftlich-exacter” Methode auffindet. Dank dieser Wissenschaft werden ungeahnte Reichtümer der Sprachwissenschaft, Ästhetik, Kritik, Philosophie und Dichtung entdeckt, und sie bestätigt Kants “vielverkanntes philosophem”. (14)
In den Folgenden führt Meltzl fünf Belegstellen an, die beweisen, wie eng das Volk an der Apriorität des Kausalitätsgesetzes und seiner Unzertrennbarkeit von Zeit und Raum festhält. Das Volksrätsel ist die beliebteste Form, in welcher sich die Volksmetaphysik kleidet. In der Rätselfrage “Der lehm/ Lief hinter dem lehm,/ Weil er ihm gestohlen hatte den lehm” handelt es sich um den prähistorischen Transzendentalidealismus, welchen die älteste Volkspoesie aller Völker in gleicher Weise ausdrückt. (15) Weitere Volkrätsel der Székler: “Nun, wann stecken beide Enden des Zaunpfahls in der Erde?” (es gab eine siebenbürgische Dorfsitte, dass man das abgewaschene Ess- und Trinkgeschirr (Töpferware) auf dem Pfahl zu trocknen pflegte), “Wann sieht der Blinde? (im Traum). Meltzl stellt die Frage, ob es nicht der reinste Kantsche Idealismus sei, wenn der Siebenbürger Sachse dieselbe Rätselfrage aufwirft wie die Székler und viele andere Gruppen: “Es ist ein kleines Tor, aber die ganze Welt geht hinein” (das Auge). “Es gäbe einen eignen zweig der vergl. Volksliederkunde, wenn man jener unerschöpflichen blumenlese der naivsten und schönsten transcendentalen vorstellungen über raum und zeit nachgehen wollte, welche die weisheit auf der gasse, das sprichwort und überhaupt jegliche art von poesie bietet, von dem uralten grotesken zahlenmythus und der monstrosen chronologie der Hindus angefangen bis zu den vexierfragen, welche sich auf die jüngsten tagesereignisse Europa’s beziehen. Aber auch in der kinderstube liesse sich manches goldne wort auflesen.” (16)
Der Beitrag Peter Gereczes zum Kant-Jubiläum präsentiert die erste Periode der ungarischen Kantrezeption (1781-1832) – unter einem anderen Gesichtspunkt, mit anderen Akzentsetzungen. Rozgonyis Streitschrift gegen Kant “Dubia de initiis transc. idealismi Kant” (1792) wird hier als “das erste eigentliche produkt ungarländischer Kantliteratur” (17) viel näher betrachtet. Rozgonyi leugnet die Apriorität des Kausalitätsgesetzes, die Unendlichkeit von Zeit und Raum und meint, dass Kant “mit seinen neugebackenen technischen ausdrücken, seinen langen perioden und überhaupt seiner eigentümlichen schreibweise oft selbst die klarsten begriffe verdunkele.” (18) Rozgonyis Werk hat eine lebhafte Bewegung hervorgerufen; zahlreiche Abhandlungen, Zeitungsartikel pro und kontra sind in Ungarn entstanden: “Die gemüter waren zunächst nur dadurch in aufregung versetzt, dass sie einer philosophie gegenüber sich befanden, welche kühn genug war, die moral vor die religion zu setzen und dadurch zum selbstziele zu erheben! Kants Anhänger begriffen wohl, dass er die absicht gar nie hatte, sich vom christl. Standpunkte zu entfernen, sondern vielmehr nur jene einfache wahrheit aus zudrücken, der zu folge die moral nicht vom glauben, oder nicht-glauben an einige dogmen abhängen kann” – bemerkt Peter Gerecze. (19)
Im Folgenden präsentiert der Autor “die begeisterten Vorkämpfer für freies Denken” (20), also Kants ungarische Anhänger. Der erste unter ihnen ist Stefán Márton, dessen “moralischer Katechismus” einen heftigen literarischen Kampf hervorrief. Die Produkte dieser Auseinandersetzung wurden in einer Sammlung vereinigt und sie werfen ein Licht sowohl auf die “unter dem mantel der religiosität verborgene beschränktheit”, als auch auf die “freisinnige, christlich-humane auffassung der erwähnten männer.” (21)
Mit preisenden Wörtern charakterisiert Gerecze Kazinczy, den gröβten Pfleger der ungarischen Sprache, der das Schöne als höchstes und einziges Gesetz sowohl auf dem Gebiete der Kunst als auch der Moral und Religion ansah. Wie wir bereits von Lomnitz erfahren haben, wurde Kazinczy mit Kants Lehre durch Paul Sipos vertraut gemacht. Er drückt seine Begeisterung für die Moralphilosophie Kants in seinen Dichtungen und seinem umfangreichen Briefwechsel aus. Er rät sogar seinen Bekannten “sich stufenweise mit Kant’s werken vertraut zu machen, vom leichteren auf das schwerere überzugehen und sich vor der wahrheit nicht zu fürchten.” (22)
Dem Namen Sámuel Köteles begegnen wir zuerst im Beitrag von Peter Gerecze. Professor Köteles war auch Verfasser zahlreicher Werke, in denen der Einfluss der Kantschen Philosophie nicht zu verkennen ist.
Zusammenfassend stellt Gerecze fest, dass Kants Gegner in Ungarn in der Minderheit waren; ihren Standpunkt begründet er damit, dass sie nicht in den tiefen Sinn der Kantischen Lehre eindringen wollten. Tatsache ist aber, dass in Ungarn zahlreiche Werke über Logik, Anthropologie usw. unter dem Einfluss Kants standen.
Schlieβlich betrachten den Fragebogen an, der 1880 von der Redaktion der ACLU zusammengestellt wurde, um die Kenntnis der “Kritik der reinen Vernunft” in Ungarn zu messen. (23)
Ist Kants “Kritik der reinen Vernunft” in Ihrer Gegend verbreitet? (Auf Akademien, Schulen, Gymnasien, verschiedenen Instituten und Bibliotheken)
Wird er in Zeitungen und Zeitschriften zitiert?
Kennen Sie Philosophen oder Wissenschaftler in unserem Land, der unter dem
Einfluss Kants steht? Solchen, der ihn nachgeahmt oder aber plagiert hat?
Wir bitten Sie um eine möglichst völlige und gründliche Kant-Bibliographie, insofern Sie sie kennen.
Dieser Fragebogen wurde ein Jahr vor dem Kant-Jubiläum veröffentlicht, mit der Überzeugung, dass nur die epochemachenden philosophischen Werke ein festes Fundament für die Literatur, Ästhetik, Kritik und Literaturgeschichte sichern können. “So kann man mit Sicherheit voraussagen, dass es mal eine Zeit kommt, wenn die Schreiber der Literaturgeschichte nur die Kritik-Philosophie kennen werden.” (24)
Die zum Gedächtnis an Schopenhauer geschriebenen Artikel sind zahlreich. Eine zentrale Rolle spielen diejenigen, die die Errichtung einer Colossalbüste Schopenhauers fordern. Schon 1879 erscheint die erste “Schopenhaueriana”, in der verschiedene Ereignisse in Bezug auf Schopenhauer an die Öffentlichkeit gebracht und bewertet werden. Am Anfang dieser Artikelreihe ist ein Brief von Dr. Julius Frauenstaedt, Autor eines Schopenhauer-Lexikons publiziert, in dem der Briefschreiber den Vorschlag der Redaktion der ACLU für eine Colossalbüste folgendermaβen empfängt: “Bezüglich des Schopenhauer-denkmals haben Sie von Ihrem standpunkt aus ganz recht, aber mein standpunkt ist ein anderer. Die philister halte ich keiner berücksichtigung wert, sie würden durch ein denkmal Sch.’s doch nicht gekehrt und gebessert werden. Nach meinem Gefühl hat ein denkmal Sch.’s nur wert, wenn es aufrichtiger ausdruck der anerkennung und dankbarkeit der wirklichen kenner und verehrer seines grossen geistes ist, die seine verdienste um die förderung der menschlichen erkenntnis zu würdigen wissen. Die zahl dieser muss aber erst noch wachsen durch verbreitung der werke Sch.’s, für welche ich jetzt durch neue auflagen sorge.” (25)
Am 90. Geburtstag Schopenhauers erscheint ein kurzer Artikel, in dem die Redaktion der ACLU für die genannte Colossalbüste 100 fr. bietet. Der Autor des Artikels begründet seine Tat mit den folgenden Gedanken: “Es bedarf wohl keiner ausführlichen Erörterung, dass es nur eine Pflicht der Dankbarkeit nicht nur der zahlreichen Schüler, Anhänger u. Verehrer Schopenhauers, sondern der ganzen gebildeten Welt ist: diesem Genius, welcher unsere menschliche Gesellschaft von so vielen groben Vorurteilen gründlichst befreit hat, eine Colossalbüste zu setzen. Sch., als Mensch des Herzens und des Kopfes, müsste aber auch dann nur eine blosse Büste bekommen, wenn seine epochale Aesthetik eine andere Art des Denkmals für einen Denker nicht geradezu perhorreszierte.” (26)
Im Jahre 1883 begrüßt die “erste Schwalbe” (27) die Redaktion in Form eines anerkennenden Briefes von Dr. Oscar Meyer aus Strassburg, der die “errichtung eines denkmals für Schopenhauer angesichts seines hundertjährigen geburtstages doch nicht länger zu verschieben” möchte. (28) Er wendet sich an die Redaktion “mit der bitte um ihre theilnahme an dem fortgange der sache.” “Vorerst sei es die aufgabe aller verehrer des grossen denkers allenthalben die herzen für die denkmals angelegenheit zu erwärmen und den frankfurtern zu zeigen, dass sie sich blos an die spitze einer bereits in fluss befindlichen bewegung zu stellen haben, um etwas grosses zu erreichen.” (29) Diesem Brief ist der Aufruf des Herrn Prof. Noirè in Mainz zur Errichtung eines Denkmals für Arthur Schopenhauer in Frankfurt am Main beigelegt. Aus diesem Aufruf zitiere ich jetzt einige Passagen: “In wenigen Jahren erfüllt sich ein Jahrhundert, seit Arthur Schopenhauer das Licht der Welt erblickt hat, einer Welt, die für ihn der Gegenstand tiefsinniger Forschung werden und die er mit den Strahlen seines Genius mächtig erhellen sollte. (…) Einem solchen Manne ein Denkmal errichten, kann nicht den gewöhnlichen Sinn haben, eine abgeschlossene Thätigkeit zu verherrlichen, einen grossen Namen vor Vergessenheit zu schützen und dem dankbaren Gedenken der Nachwelt zu bewahren. Das alles gilt für Schopenhauer nicht, denn seine Wirksamkeit hat kaum begonnen und wird in künftigen Jahrhunderten erst zur vollen Geltung gelangen. (…) Die unterzeichneten sind zusammengetreten, um dem grossen Lehrer der Menschheit zum hundertjährigen Gedenktage seiner Geburt ein würdiges Denkmal in der Stadt, wo er die besten Jahre seines Lebens verweilte, zu errichten. Sie bitten um Beiträge zu diesem Zwecke bei den Gebildeten aller Nationen. Schopenhauer als Schriftsteller gehört zunächst Deutschland, als Philosoph der ganzen Menschheit.” (30)
Ein Korrespondent der Redaktion, Dr. W. Gwinner aus Frankfurt am Main möchte in seinem 1878 veröffentlichten Brief denen zu Hilfe kommen, die ein Ölporträt Schopenhauers erwerben wollen: “… bringe ich zur Kenntnis, dass der französische Maler Jules Lunteschütz aus Besançon (…) einen neueren Versuch, dem geistigen Ausdruck des merkwürdigen Kopfes Näher zu kommen, in einem lebensgrossen Brustbilde unternommen hat, welcher als vorzüglich gelungen zu beten ist.” (31) Gwinner belegt die Bevorzugung des Ölporträts damit, dass: “… auch die höchste photographische Aehnlichkeit kein richtiges Bild geistbelebter Züge gibt, welche nur der Genius des Künstlers aufzufangen und festzuhalten versteht.”(32)
Dem Namen Gwinner begegnet der Leser der ACLU auch anlässlich der zweiten Auflage der Gwinnerschen Schopenhauer-Biographie. “Es ist ein ganz neues grosses werk, das neue keime und materialien zu unabsehbar zahlreichen studien über Schopenhauer in sich birgt (…): 1) Schopenhauers jugendjahre und bildungsgang; 2) Sein verhältniss zur mutter; 3) sein verhältniss zur zeitgenössischen philosophie, namentlich zu Hegel.” (33) Das Werk fand groβe Anerkennung, denn es behandelt “diejenigen drei punkte, bei welchen man bislang am meisten im finstern umhertappte, ohne es jedoch an groben vorurteilen, ja schandbaren anschuldigungen und verdrehungen fehlen zu lassen.” (34)
Im Jahre 1878 wird in der “Schopenhaueriana” eine kleine Selbstbiographie Arthur Schopenhauers – ein Ineditum – veröffentlicht. Die Selbstbiographie, erhalten von dem Dichter Dr. Hermann Rollett, wurde vorher von einer Lexikon-Redaktion nur teilweise, im “Wortlaut vielfach umgestaltet” (35) benützt. In der ACLU erscheint sie aber in ihrer Ganzheit, dank Hermann Rollett.
Derselbe Dichter schickt der Redaktion seine Notizen, die er als zweiter Tischnachbar Schopenhauers im Schwan zu Frankfurt am Main gemacht hat. Er zählt sich nicht zu Schopenhauers näheren Bekannten, dennoch notierte er sich einiges über ihn: “…Lebhaft erinnere ich mich eines feingebauten u. stets feingekleideten mittelgrossen mannes mit kurzem silberhaar, fast militärischem backenbart und sonst immer sauber rasiert, mit rosiger gesichtsfarbe, lichtem vergnügt vor sich hinschauendem, ungemein verständigen auge, mit oft satyrisch lächelndem ausdruck des edel gebildeten angesichts (…).” (36)
Aus der ersten “Schopenhaueriana” aus dem Jahr 1879 erfahren die Leser, dass die Philosophie Schopenhauers in Ungarn auch zum Thema von Universitätsvorlesungen geworden ist. Diese Bemerkung wurde infolge einer Behauptung des Professors Harms gemacht. Als Antwort auf die kritische Meinung Schopenhauers über den genannten Professor schrieb der Letztere ein Pamphlet, in dem er behauptete, Schopenhauer sei nie Gegenstand von Universitätsvorlesungen gewesen. (37)
Mit dem selben verteidigenden Verhalten kritisiert die Redaktion der ACLU Aussagen aus der französischen Zeitschrift „Deux Mondes“: u.a. “… choix entre les boutades du célèbre pessimiste allemand … traduit d’une langue assez difficile … Il a clarifié ce Germain et …” (”… die Wahl zwischen den Geistessprüchen des berühmten deutschen Pessimisten … übersetzt in eine ziemlich schwierige Sprache … Er klärte ce Germain (diesen Deutschen)”). Die Kritik ist scharf: “(…) dass der gemütliche kritiker, oder vielmehr nur umschlagnotizenschreiber der Revue mit seinem gegenstand kaum mehr vertraut ist, als eine heuschrecke mit der botanik… Er hat nämlich von der als “dunkel” bekannten “deutschen” philosophie läuten gehört und nun wendet er flugs seine schablone auch auf Schopenhauer an, und zwar auf ihn als: “ce Germain.” Vielleicht ist das dem universalsten philosophen Europas gegenüber, der unsere vergleichende litteraturwissenschaft mitbegründen geholfen hat, nicht grade der rechte weltton in einem weltblatt.” (38)
Schlieβlich schauen wir uns kurz den Beitrag von Dr. Dezsö Farnos an, der Schopenhauer als Dichter betrachtet und bewertet. “Er, der poetischeste Philosoph – von dessen Versen poetische Schönheit ausstrahlt – dessen Sprache sogar die abstraktesten philosophischen Gedanken mit poetischem Zauber bedeckt.” (39) Man könnte glauben, der schwache Dichter beschattet den auβerordentlichen Philosophen, doch seine Gedichte beleuchten ihn. Denn sie sind nichts anderes, als Schmuck des Gebäudes seiner Philosophie; verkleinerte Spiegelbilde des Wesentlichen; philosophische Grundsätze in poetischer Form.” (40)
Literaturverzeichnis
Acta Comparationis Litterarvm Vniversarvm, Zeitschrift für vergleichende Litteratur, 1878, 1879, 1880, 1881, 1884, 1885, Fundatores & Editores Dr. Sámuel Brassai & Dr. Hugo de Meltzl, Klausenburg, Ungarn
Dr. Darai Lajos, Der Empfang der Kantischen Ideen in der ungarischen Aufklärung, www.mek.iif.hu
Notenverzeichnis
1 – vgl. Darai Lajos
2 – vgl. Darai Lajos
3 – ACLV, 1881, S.1717
4 – ebd. S.1718
5 – ebd.
6 – ebd.
7 – ebd. S.1719
8 – ebd. S.1722
9 – ebd. S.1723
10 – ebd. S.1724
11 – ebd. S.1725
12 – ebd. S.1726
13 – ebd. S.1727
14 – s. ebd. S.1728
15 – s. ebd. S.1729
16 – ebd. S.1730
17 – ebd. S.1731
18 – ebd.
19 – ebd. S. 1732
20 – ebd.
21 – ebd. S.1733
22 – ebd. S.1731
23 – ACLV, 1880, S.1533-1534
24 – ebd. S.1533
25 – ACLV, 1879, S.1201
26 – ACLV, 1878, S.548
27 – ACLV, 1884, S.2652
28 – ebd. S.2651
29 – ebd. S.2652
30 – ebd. S.2653-2654
31 – ACLV, 1878, S.709
32 – ebd. S.708
33 – ACLV, 1881, S.1773
34 – ebd. S.1774
35 – ACLV, 1878, S.709
36 – ACLV, 1879, S.1203
37 – ebd. S.1206
38 – ACLV, 1881, S.1771-1772
39 – ACLV, 1885, S.3132-3133
40 – ebd.