Norina Procopan
Paul Celans Gedicht Psalm. Von der Wirklichkeit hervorbringenden Kraft der dichterischen Sprache
In den bruchstückhaften Aufzeichnungen seiner Materialien zu der Meridianrede bemerkt Celan angesichts des Versuches, Dichtung als Dialog, als Ausrichtung auf ein “Gegenüber” zu gestalten folgendes: “Der Adressat des Gedichts ist niemand. Niemand ist da, wenn das Gedicht zum Gedicht wird. Das Schicksal dieses Niemand auf sich zu nehmen, führt zum Gedicht”[1]. Die Gedichtsammlung Die Niemandsrose, ist zwischen 1959 und 1963 entstanden, zu einer Zeit also, in der Celan sich vom deutschen Kulturbetrieb missverstanden und verfolgt sah und unter der Bezichtigung Claire Golls, das Werk ihres Mannes, des Dichters Ivan Goll, plagiiert zu haben auch psychisch und geistig zu leiden hatte.
Die existentielle Bedrohung, dessen Celan sich in dieser Zeit erneut ausgesetzt fühlt (die wiederholte Erfahrung antisemitischer Manifestationen verletzen ihn zutiefst) kommt in dem Gedichtband Die Niemandsrose vor allem durch eine ausgesprochen reflektierte Hinwendung zum Judentum sowie einer intensivierten Auseinandersetzung mit der russischen Literatur zum Ausdruck. Nelly Sachs und Ossip Mandelstamm (dem letzteren ist Die Niemandsrose auch gewidmet) sind in dem Gedichtband dominiernde Gestalten und Dialogpartner. Beide sieht Celan als Repräsentanten des west – bzw. des osteuropäischen Judentums, in Auseinandersetzung mit welchen seine Lyrik mit zentralen Gedanken, wie das Verständniss des Gedichtes als Ort der Begegnung, Erwartung und Erinnerung, bereichert wird.
Die Auseinandersetzung Celans mit dem Judentum, seine Beschäftigung mit Motiven der jüdischen Religion, Literatur oder Mystik ist zwar in der Niemandsrose ausgesprochen intensiviert, wie in keinem anderen früheren Gedichtband sonst. Das Verständnis der Gedichte dieses Bandes allein aus dem Gesichtspunkt der Tradition jüdischer Mystik würde jedoch, glaube ich, weitere erschliessbare Bestimmungen erschweren.
Vor allem am Beispiel des Gedichtes Psalm wird ersichtlich, daß die dialogische Ausgewogenheit zwischen Nähe und Distanz zur jüdischen Dimension, die Aufforderung zum “Verjuden” als Bekenntnis zum “Anderswerden”, zur Hervorbringung der Dichtung beitragen. Im Gedicht Mandorla kann man am Beispiel der Vorstufen bemerken, inwiefern Dichtung als “Hinwendung zum Anderen” gelingen kann. Erst in der dritten Vorstufe zur Entstehung dieses Gedichtes variiert Celan den unterstrichenen Vers “Rote Judenlocke, wirst nicht grau”, (in der Endfassung verzichtet Celan sogar auf die suggestive adjektivische Bestimmung der roten Farbe als Zeichen des Todes). Die Wiederaufnahme der Aussage zum Schluss des Gedichtes in Form von “Menschenlocke, wirst nicht grau”, – wobei die Wiederholung des Verbs “wirst” im Präsens, das jedoch auf Veränderbarkeit, künftige Entwicklung im Kontext eines statisch konfigurierten Textes deuten soll, lediglich in diesen beiden Versen gebraucht wird – erweitert den Bezug um den jüdischen Adressaten zum “menschliches Dasein in seiner ganzen Weite”[2].
Das Gedicht Psalm ist mit anderen Gedichten des Bandes thematisch verwandt. In Es war Erde in Ihnen, Radix, Matrix, Mandorla, oder Benedicta ist festzustellen, daß der religiöse Diskurs in einen poetologischen überführt wird. In diesen Gedichten reflektiert Celan über die Fähigkeit der Dichtung, Wirklichkeit zu stiften, dort, wo angesichts der Judenverfolgung und Judenvernichtung religiöse Inhalte prekär geworden sind. Celan greift in dem Gedicht Psalm auf die religiöse Sprache der biblischen Psalmen zurück, nicht aber auf deren religiösen Inhalte. Geradezu kontrastierend wirkt der formale Lobgesang des Psalms und die Gott anflehende Klage, die, nach dem Muster der religiösen Psalmendichtung ein Lobpreis Gottes sein sollte. Der namenlose Niemand, der an Stelle des Schöpfergottes auftritt, erinnert zwar an die Abwesenheit Gottes in den fünf Klageliedern Jeremias (vor allem im ersten Klagelied ist die häufige Wiederholung des Indefinitpronomens “niemand” festzustellen). Diese Absenz ist aber in den Klageliedern anders als bei Celan konotiert: die aus der Katastrophe erwachsene innere Krise Israels – die Klagelieder sind im Kontext der Eroberung und Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier 587 v. Chr. entstanden – soll glaubend bewältigt werden. Jahwe habe zwar das gottlos gewordene Volk Israels bestraft und nun wird darauf gemahnt, sich bußfertig dem Gott zuzuwenden und von ihm Wiederherstellung zu erhoffen.
Der Titel in Celans Gedicht ist jedoch das einzige Element, das noch am alttestamentlichen Diskurs der Gottesanrufung erinnnert.
Psalm
Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm,
niemand bespricht unsern Staub.
Niemand.
Gelobt seiest du, Niemand.
Dir zulieb wollen
wir blühn.
Dir
entgegen.
Ein Nichts
Waren wir, sind wir, werden
wir bleiben, blühend:
die Nichts-, die
Niemandsrose.
Mit
dem Griffel seelenhell,
dem Staubfaden himmelswüst,
der Krone rot
vom Purpurwort, das wir sangen
über, o über
dem Dorn.[3]
In den ausgesprochen vielen und weitgefächerten Interpretationen, die diesem Gedicht zuteil wurden, geht man davon aus, daß mit der „wir“-Gestalt des Gedichtes die jüdischen Toten gemeint seien, die hier Klage führen[4]: „aus der Klage um die Toten“ wird „eine Klage, die die Toten selbst führen“. Einer anderen Vorstellung zufolge, sind es Überlebende und Tote zusammen, die Gemeinschaft Israels also, die klagenden Protagonisten[5] des Psalms, die die Unmöglichkeit der Wiedererschaffung des Menschen erfahren müssen. Auch die Vorstellung einer „Gemeinde der mystischen Gottsucher“[6], deren Kräfte zum Erwachen und Aktivieren der Gottheit führen sollte, die sich daraufhin aus der ursprünglichen Verborgenheit und Leere des Nichts in Form der „Schechina Rose“ oder als „Krone“ offenbaren würde, ist bemüht worden.[7] Nicht zuletzt sei hier die Darstellung zu erwähnen, daß im Gedicht der Sprechende zwar ein Psalmist ist, der jedoch nicht über sein eigenes Leid klagt, sondern, einem Propheten ähnlich, die Rettung des jüdischen Volkes erhofft. Das führt somit zur Annahme, daß an dieser Stelle Celan sein Gedicht in gleichzeitiger Anlehnung und Distanz zur Tradition der Psalmendichtung positioniert, weshalb die Ausrichtung der Klage, die Erlösung vom Leiden, wesentlich unterschiedlich ist, im Vergleich zu derjenigen, die in den biblischen Psalmen anzutreffen ist.[8]
Celans Psalm lebt jedoch aus einer dynamischen Polarität zwischen der Figuration eines selbstbewußten „Wir“, aus der Gemeinschaft mit den Toten und der zu Beginn des Gedichtes zentrale Hypostasiierung des Niemand.
Das Gedicht setzt abrupt mit der Exponierung an erster Stelle eines unbestimmten „Niemand“ an, das zunächst als Indefinitpronomen erscheint, um lediglich am Ende der ersten Strophe an „Identität“ zu gewinnen, indem es seine grammatische Kategorie wechselt und zu einem Nomen, einer Quidität wird. Die Paradoxie entsteht eben dadurch, daß etwas, was keine Existenz, bzw. keine Substanz aufweisen kann, substantiviert wird, daß also dem Niemand Existenz zugesprochen wird. Der Umschlag in diese neue Qualität läßt häufig vermuten, daß Celan hier an die biblische Episode der Erschaffung des Menschen denkt, diese jedoch umwertet, insofern anstatt Gott eben dessen Absenz festgestellt wird. Auch das Verb „kneten“, sowie die Umdeutung von Erde und Lehm, die in der Bibel als lebensspendende Materie gelten, zu der toten Materie des Staubes, verdeutlicht die gleichzeitige Assoziierung und Distanzierung zum religiösen Schöpfungsvorgang. Wichtig erscheint mir, dieses Mal im Zusammenhang zum Gesang des „Wir“ aus der letzten Strophe, der allerdings ein gewesener ist (Celan verwendet an dieser Stelle das Präteritum und spricht vom „Purpurwort, das wir sangen“) die Bedeutung vom „Besprechen des Staubs“ in der ersten Strophe. Die Assoziation mit dem Einhauchen lebendiger Seele, der Pneuma aus der Genesisepisode (Gen 2,7) oder mit dem Golem-Mythos aus der jüdischen Mystik, an den auch Gedichte wie Es war Erde in ihnen oder Einem der vor der Tür stand erinnern, verschärft den Gegensatz dieser Partie zu der biblischen Schöpfungsgeschichte. Die Wiederholung mit variirender Semantik des Wortes „Niemand“, der Hinweis auf den wiederaufgenommenen Akt des Knetens sowie die Verengung der ersten Strophe auf die Nichtexistenz eines Schöpfers verweisen auf eine duplizitäre Positionierung gegenüber der Tradition der Volksklagepsalmen: weder eine dezidierte Absage an die Affirmation der Gottheit, noch dessen absolute Akzeptanz. Diese Duplizität, diese Gleichzeitigkeit konträrer Aussagen, verweist meines Erachtens darauf hin, dass für Celan, Dichtung sich als „Intervall zwischen Stimmlos und Stimmhaft“[9] vermitteln läßt. Sie nimmt den Riss, den Bruch wahr, zu dem sie die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderst auch erzwungen hat. Lediglich angesicht dieses Risses, dieser historischen Wirklichkeit, die das Gedicht wahrnimmt, kann es „besetzbar“ sein, kann es „das Inkommensurable des Anderen mitsprechen lassen“.[10]
Dieses Zum-Wort-Kommen des „Anderen“ ist in der ersten Strophe von Psalm noch nicht eingeräumt. Die Sprechenden werden negiert, sie sind zu Staub geworden und niemand vermag, trotz wiederholter Versuche einer Palingenesie, einer Neubelebung sie existent werden zu lassen. Auch auf grammatikalischem Niveau ist deren Nichtexistenz kundgegeben. Lediglich als Objekte oder Possesivpronomen treten sie auf.
Mit Beginn der zweiten Strophe gewinnt die „wir“-Gestalt an Substanz, aber nicht indem ihr sofort ein Tun und somit Identität zugesprochen wird, sondern, was aus der ersten Strophe noch beibehalten wird, aufgrund der Passivität des Subjekts, des „Niemand“. Es ist eben die Passivität des Schöpfers, von der Gershom Scholem in seiner Arbeit über die jüdische Mystik spricht, die Vorstellung einer Schöpfung aus dem Nichts, der Zurücknahme, der Konzentration und Verschränkung des göttlichen Wesens zugunsten einer Entfaltung der Schöpfung, was zu der Annahme verleitet haben soll, daß Celan an dieser Stelle Themen jüdischer Mystik mitberücksichtigt. Auch die apophatische Lehre der negativen Theologie eines Dionysos Aeropagita oder die Mystik Meister Eckharts sollen mögliche Ausgangspunkte dieses mystisch konfigurierten Schöpfungsbildes gewesen sein.
Das Niemand bleibt jedoch eine negierte Autorität und als solche erst, Voraussetzung zur Kristalisation einer Identität der „wir“-Gestalt. Zunächst ist davon die Rede, daß in passivischer Formulierung das Niemand von den Sprechenden gelobt wird: „Gelobt seiest du, Niemand“. Indem der „wir“-Gestalt Identität und Möglichkeit an Entfaltung eingeräumt wird, gewinnt auch das Niemand an Bestimmung, indem es personalisiert wird und vom substanzlosen Subjekt der ersten Strophe zum hymnischen Vokativ in der zweiten wechselt : „Dir zulieb wollen / wir blühn“. In der streng komponierten Versfolge[11] ist die Gegenbewegung von „Du“ des Niemands zum gemeinschaftlichen „wir“ nachvollziehbar.[12] Auch ist in der zweiten Strophe lautlich der Gesang, die Dichtung, die sich in der letzten Strophe entfaltet angekündigt: die Wiederholung des Vokals „O“ in den Verben „loben“ und „wollen“, Verben, die bereits die Exponierung des „wir“ markieren, bilden einen Gegensatz zur monoton wirkenden Wiederholung des „Niemand“ in der ersten Strophe.
Die Mitte der zweiten Strophe enthält die Aussage über die Entfaltung, das Blühen der „wir“-Gestalt, deren Figuration, mittels Versbrechungen und wiederholten Engembaments auf eine vertikale Achse des Gedichtes lenken.[13] In der Mitte der Strophe „blüht“, als „Symbol der jüdischen Verbundenheit“ [14], eingebunden in die Permanenz des Gegenüber, des Niemand, das nun personalisiert zu einem „Dir“ geworden ist, die „wir“-Gestalt. Diese Gestalt blüht dem „Niemand“ entgegen, was zugleich in ein „Blühen“ in Richtung auf das „Niemand“ bedeuten kann, d.h. dieses akzeptierend, oder im Gegensatz zu ihm, sich ihm widersetztend. Es ist nämlich die Stelle im Gedicht, in der die Negativität der Aussagen aus der ersten Strophe zurückgenommen wird: der sprechenden Psalmist, der sich den Toten verwandt fühlt, der in dessen Namen schreibt, läßt deren Nichtsein zum Ausdruck kommen.
Das Niemand ist nun nicht mehr die abwesende göttliche Instanz. Im Spiel gleichzeitiger Potenz und Absenz, im Wechselbezug zwischen „Dir“ – „Wir“ – „ Dir“, in der Spannung zwischen dem Lobgesang, der Liebe, der Entfaltung und trotz dieser doch eines noch evidenten Gegensatzes wird die Stimme hörbar, in welcher die Toten aus ihrem sprachlichen Jenseits, das die Erinnerung an die Vernichtung wachhält[15], das Gedicht erschaffen.
Mit Beginn der dritten Strophe ist nicht nur der Gegensatz zwischen dem Niemand und der Figuration der Toten in der „wir“-Gestalt aufgehoben. Durch die Identitätserklaerung „Ein Nichts / waren wir, sind wir, werden / wir bleiben, blühend“ führt Celan eine neue Dimension ein: die der zeitlichen Abfolge von Ereignissen und somit die Funktion der Erinnerung. Damit soll die ursprünglich, lediglich in der vertikalen Achse angesiedelten Differenzierung zwischen den Toten und der leeren Transzendenz zu einer von der Liebe zu den Toten, als vermittelnde Instanz gestifteten Einheit in der Zeit führen. Das wahre Wesen der Zeit (die poetische Figur der Paronomasie deutet das Gewesene zum Wahren)[16] wird zugleich zum Wesen der Dichtung: die Dichtung entsteht und entfaltet sich mit Bezug zu dieser Erinnerung.[17]
Weil aber Dichtung angesichts der historischen Ereignissen ein düsteres Gedächtnis aufweist, wird Erinnerung zum Signum der Abwesenheit. Die Dichtung ist die „Nichts-, die / Niemandsrose. Das von Celan aufgezeichnete Zitat aus dem Kampaner Tal und die dazugehörende Fußnote sind Hinweise dafür, daß die einzige Möglichkeit, in der Gegenwart Gedichte zu schreiben und sich der Barbarei dennoch zu entziehen darin besteht, die Erinnerung an das wahrhaftig passierte aufzubewahren und die Erinnerung zugleich als permanentisierte Abwesenheit und Zerstörung, als Verstummen und Schweigen aufzufassen:
„»…wie an den Häusern der Juden (zum Andenken des ruinierten Jerusalems), immer etwas unvollendet gelassen werden muß.« …zu Erinnern im Gedicht – Erinnern als Abwesenheit -“.[18]
Die Verbindung von Rose und Schweigen ist ein in literarischen Kontexten häufiges Symbol. Auch die Assozition von Rose und Leiden hat eine weitgefächerte Tradition vom orientalischen bis zum europäischen Kulturraum hin (im letzteren vor allem als Sinnbild der Leiden Christi und der Martyrer) und die Auffassung der Rose als Dichtung und Sprache ist in der Lyrik Rilkes und Mandelstamms ebenfalls auffindbar. Parallelstellen aus Celans Lyrik deuten allerdings auch auf die Verwandtschaft zu dem Motiv des jüdischen Geschlechts: in Hinausgekrönt ist der Name, und das Geschlecht der exilierten und ermordeten Juden in dem Bild der „Ghetto-Rose“ vereinigt:
Mit Namen, getränkt
von jedem Exil.
Mit Namen und Samen,
mit Namen, getaucht
in alle
Kelche, die vollstehn mit deinem
Königsblut, Mensch, – in alle
Kelche der großen
Ghetto-Rose, aus der
du uns ansiehst, unsterblich von soviel
auf Morgenwegen gestorbenen Toden.[19]
In der letzten Strophe von Psalm entfaltet sich die Rose in ihrer erfahrbaren Konkretheit. Das Gedicht ist nicht lediglich an die Selbstreflexion der Lyrik geknüpft, sondern hier soll, mittels der Sprache Wirklichkeit gewonnen werden. Damit wird die Verbindung zwischen Wort und Ding realisiert: die Niemandsrose wird in konkreter Gestalt versinnbildlicht. Der „Griffel“ in der letzten Strophe verweist nicht nur auf den weiblichen Fortpflanzungsteil der Blüte, so daß hier an die Fruchtbarkeit der Schöpfung mitzudenken sei, die in der ersten Strophe ausgeblieben ist. Der „Griffel“ meint auch den Schreibgriffel und damit die Rose als Wirklichkeit, die ihren Ursprung im geschriebenen Wort hat. Durch das Wort wird der Wirklichkeit eine neue Einheit verbürgt, eine Einheit, die nicht der Glaube an eine transzendente Instanz gewährleistet.
Das Naturding Blüte entsteht hier mittels der Sprache, als Wirklichkeit der Dichtung. So versucht Celan in seinem Psalm, anders als in den Volksklageliedern, die das zentrale Unheilsgeschehen des Volkes Israels als Gericht Jahwes deuten, das historische Fatum der Vernichtung nicht zu erklären, sondern mit Hilfe der Sprache, die „durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede“[20] mußte, eine neue Wirklichkeit zu entwerfen. In der Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der freien Hansestadt Bremen, der das eben erwähnte Zitat auch entnommen ist, sieht Celan seine Dichtung als Versuch, Wirklichkeit zu stiften: „In dieser Sprache habe ich (…) in jenen Jahren und in den Jahren nachher, Gedichte zu schreiben versucht: um zu sprechen, um mich zu orientieren, um zu erkunden, wo ich mich befand und wohin es mit mir wollte, um mir Wirklichkeit zu entwerfen.“[21] Auch in der Antwort auf eine Umfrage der Pariser Libraire Flinker aus dem Jahre 1958 über seine gegenwärtigen Arbeiten und Vorhaben, wo Celan vom „Düsteren im Gedächtnis“, vom „Fragwürdigste(n) um sich her“ der deutschen Lyrik nach 1945 spricht und deren Sprache als „grau“ und „um Präzision“ bemüht sieht, ist das dichterische Sprachwerk ein Gewinnen von Wirklichkeit, die nicht existiert, sondern die „gesucht und gewonnen sein“ will.[22]
Die Wirklichkeit der Wörter, die die Autentizität der Dinge verbürgt, ist eine zu suchende Wirklichkeit, eine Aufgabe, die allerdings durch die Zeit hindurch, „nicht über sie hinweg“ an Gestalt gewinnt. Damit verweist Celan auf das notwendige Tauchen der Wörter, der Sprache, in die Tiefe der Toten, wodurch auch die Taufe der Sprache vollzogen wird. Bernhard Böschenstein hat nicht nur anhand des Gedichtes Tübingen, Jänner die Verbindung zwischen Taufen und Tauchen aufgedeckt, sondern auch am Beispiel des Gedichtes aus dem Nachlass Immersio (Eintauchen) ist eine Veränderung der Welt erst durch die sich zu den Toten begebenden Wörter möglich[23].
Der „Staub“ aus der erste Strophe, die tote Materie, die vergeblich den lebensspendenden Hauch des göttlichen Wortes erwartet, wird in der letzten Strophe zum „Staubfaden“. Der „Staubfaden“, der männliche Teil der Blüte, zeugt weiterhin von gleichzeitigen Antinomien, vom Widerspruch von Negation und Affirmation: der Staubfaden ist „himmelswüst“, auf Himmel und Wüste zugleich deutend, wodurch die Erinnerung, das Tauchen zu den Toten mit einem aufsteigenden Blick hergestellt wird. Zugleich ist der Staubfaden in Verbindung zu bringen mit der dichterischen Tätigkeit, mit der Textur, dem Gewebe der Sprache, wobei die Ausrichtung sowohl des Griffels – der im übertragenen Sinn auch als Schreibinstrumentist aufzufassen ist, womit Celan erneut die Funktion der Dichtung mitberücksichtigt – als auch des Staubfadens auf die vermittelnde Vertikalität zwischen einem Unten und einem Oben hinweist.[24] Das Gedicht entsteht eben nur angesichts dieses ununterbrochenen Dialogs mit den Toten: der Staub, die Asche der Toten aus der ersten Strophe wird zum Faden des Kunstwerkes, das aus sprachlichen Staubkörnern, aus der zerstreuten Sprache neu entsteht.
Celan redigiert in seinem Gedicht die Aussagen der Klagelieder Jeremias. Vor allem im ersten Threnos (diese latinisierte griechische Form der Klagelieder ist die in der Wissenschaftssprache gängige Bezeichnung) ist das durch Jahwe verursachte Leid Konsequenz des selbstverschuldeten Handelns des israelischen Volkes. Die Erinnerung an Jahwes Gnade im dritten Klagelied wird zum Anfang neuer Hoffnungen durch die Schuldbekenntnis. Im vierten Klagelied jedoch wendet sich diese Hoffnung erneut: der klagenden Bericht über die Not Jerusalems während der Belagerung der Stadt durch die Babylonier geht in eine Volksklage über die vergebliche Hoffnung auf eine Wende des Schicksals. Mit der Bitte um Wendung des Geschicks endet das fünfte Volksklagelied. In keinem der Klagelieder, die vom Inhalt her uneinheitlich sind, ist das Schweigen Gottes aufgehoben. Auch wird die ursprüngliche Gemeinschaft Gottes mit seinem Volk nicht hergestellt, sondern existiert lediglich in der Erinnerung. Anders jedoch in Celans Psalm, wo der kollektive Protagonist nicht die verzweifelten, sühnenden Überlebenden sind, sondern die „blühenden“ Toten, denen sich die Stimme der dichterischen Ich Gestalt und deren dichterischen Tätigkeit gesellt. Die neugeschaffene, durch den Abgrund geführte dichterische Sprache – mittels des Griffels, der„seelenhell“ ist, verweist Celan in paranomasischer Komposition (hell-Hölle)[25] auf das katabatische Hinabgleiten der Sprache zu den Toten – ist zerstreut. Der Faden, das Gewebe der Dichtung ist auf das Staubkorn der Vernichtung konzentriert. Der Staubfaden der Pflanze, der Fortpflanzungsteil des Blumengedichts ist „himmelswüst“, in die Richtung eines wüsten, öden Himmels orientiert, so daß der einzige Bezugspunkt der Dichtung nicht in deren Hinwendung zu einer göttliche Instanz zu suchen ist. Die Anabasis, das Emporblühen der Dichtung ist lediglich aufgrund dieser Zersplitterung und Hinabführung der Sprache möglich.
Die Nichts-und die Niemandsrose ist die Dichtung, es ist das „Purpurwort“, eine mittels der Sprache neu gewonnene Wirklichkeit, die trotz der Leere und der Finsternis wächst: „vom Purpurwort, das wir sangen / über, o über / dem Dorn.“ Die Krone evoziert in diesem Kontext die Königswürde des Menschen, die diesem in den Klageliedern verweigert wird. Der Lebenswille des Menschen, der sich in der zweiten Strophe in der zart und unsicher ausgesprochehen Aussge „Dir zulieb wollen / wir blühn“ kundgibt, gewinnt hier an Prägnanz. Leben entsteht durch Gesang, durch Dichtung und nicht durch Gebet. Der Lob ist „eine Entgegenung auf den Mord“[26].
Zuletzt möchte ich auf eine, meines Wissens von der Forschung wenig beachteten Verwandtschaft von Psalm mit einem Jugendgedicht Celans aufmerksam machen. Das Gedicht Windröschen[27], das im Jahr 1943 im rumänischen Arbeitslager Tabarasti zusammen mit anderen vier Blumengedichten entstanden ist, die Celan seiner damaligen Freundin Ruth Kraft widmete, zeugt trotz des ersten Eindrucks der Hoffnung und Zuversicht von einer untröstlichen Trauer, die in Psalm nicht vorhanden ist.
Die Buschwindröschen, die von Abend zittern,
blühn schimmernd unsrer Dunkelheit voraus.
Du schließ dein Aug vor meinem Mund, dem bittern;
aus meiner Hand, der leisen, nimm den Strauß.
Ist, was sie deinen Wangen übertragen,
nichts, als der Frühling und das Regennaß?
Vielleicht, daß sie dem Blumengott entsagen,
daß ich mein Kind mit süßern Händen faß?
Die Osterblumen hängen mit dem Leben
und meinem Mund dir träumend am Gesicht.
Du aber fühlst noch nicht mein Herz daneben,
sich heimlich sehnen nach Vergißmeinnicht[28].
In der ursprünglichen Fassung heißt das Gedicht in lateinischer Bezeichnung von Windröschen, Anemone Nemorosa. Auf griechisch heißt ‘Anemo’ ‘Wind’, während ‘Nemorosa’ ‘Niemandsrose’ bedeutet. Die ‘Osterblume’ ist zugleich ein anderer Name für ‘Windröschen’, wobei die Auferstehungs – und Lebenssymbolik, die dem Namen inhärent ist, von der naturgemäßen Wirklichkeit der Pflanze aufgehoben ist. Das ‘Windröschen’ ist eine bittere und giftige Pflanze, weshalb die zarte Blumensymbolik des gesamten Gedichtes sich als eine Illusion entlarvt und statt im Zeichen des Lenbens und der Fruchtbarkeit zu stehen (die Motive des Regens und des Frühlings, sowie die Blumenbotschaft sind allgemein Symbole der Liebe und des Lebens) bewahrt die „Ich“-Gestalt in seinem Herzen die Sehnsucht nach der toten Mutter. Diese Todessehnsucht, die bereits in der ersten Strophe in der gemeinsamen Dunkelheit als Vorahnung des Todes anklingt, ist in dem Entsagen an den Blumengott in der zweiten Strophe intensiviert, indem sich die als Kind figurierte „Ich“-Gestalt der geheimen todbringenden Kraft der Osterblumen überläßt. Die Wirklichkeit der Dichtung ist eine Täuschung: „Die Osterblumen hängen mit dem Leben / und meinem Mund dir träumend am Gesicht“. Die seinsstiftende Instanz der Niemandsrose ist hier allein der Tod. Es ist hier weder die in der Weltliteratur so häufige Verbindung von Liebe und Tod, noch die unüberhörbaren Töne der Lyrik Rilkes, die hier das Motivinventar prägen: die poetologische Nuance des träumenden Mundes läßt in dieser Zeit auf eine „verweigerte Poetisierung der Welt“[29] schließen.