Burkhart Lauterbach
Expressive Bilder. Die photographischen Erzählungen von Robert Doisneau (1912-1994)
über Paris und seine Banlieue
Seit etwa 15 Jahren läßt sich beobachten, daß Postkarten- und Plakate-Läden, im Pariser Quartier Latin wie auf der Münchner Schellingstraße, im Frankfurter Hauptbahn-hof wie im Zürcher Niederdorf, stets einige Motive von Robert Doisneau (1912-1994) im Angebot führen. Kaum ein Merian- oder Geo-Heft über Paris erscheint, ohne daß ein Artikel Doisneau gewidmet ist oder zumindest eine Auswahl seiner Fotos zum Abdruck kommt1. Seit 1992 befindet sich eine Retrospektive-Ausstellung auf Weltreise, die innerhalb der ersten fünf Jahre in Oxford, Manchester, Lissabon, Montreal, Paris, Tokio, Düsseldorf und weiteren Städten zu sehen war2. Doisneaus Bilder leben, zweifellos: “Some of his images have acquired the status of popular icons and one of these, ‘The Kiss at the Place de l’Hôtel de Ville’, now seems to take pride of place in the bedroom of the archetypical teenager; it has also been widely copied”3.
“Bilder” und “Leben”, diese beiden Begriffe lassen drei unterschiedliche Kom-binationsmöglichkeiten, und das heißt für Photographiekundler eine entsprechende Anzahl von Aufgabenstellungen, zu: “Bilder vom Leben”, “Leben der Bilder” und schließlich “Leben mit Bildern”. Ich beschränke mich im folgenden vorwiegend auf den Bereich “Bilder vom Leben”.
Der Photographiehistoriker Peter Hamilton macht für Doisneaus Leben und Arbeiten sechs verschiedene Phasen aus, deren erste drei für meinen Argumentation-szusammenhang von untergeordnetem Interesse sind: Kindheit, Jugend und Ausbildungszeit (1912-1929) in einer südlichen Vorstadt von Paris, in Gentilly, seine Anfänge als Berufsphotograph im Atelier Ullmann, einem Studio, das Werbeaufträge für die pharmazeutische Industrie ausführt, sowie in der Werbeab-teilung der Renault-Automobilwerke, dane-ben erste Alltagsaufnahmen (1930-1939), schließlich Kriegsteilnahme und Enga-gement für die Resistance (1940-1944)4. Die Folgezeit (1945-1960) sieht Hamilton dadurch charakterisiert, daß sich Doisneau, wie andere auch, der sogenannten humanistischen Photographie für Reportagen in Zeitungen, Zeitschriften und Illustrierten zuwendet: “Humanism, in this context, means the representation of major issues and concerns through their impact on specific individuals who are shown as the agents of their own destinies. It was a reaction against those totalitarian ideologies and impersonal economic forces which tend to treat people as a monolithic and de-individualized mass”5.
Was das konkret bedeutet, kann die Auseinandersetzung mit den während dieser Jahre entstandenen Photographien erklären, wie man sie etwa im zu Beginn der Welttournee der Retrospektive-Ausstellung 1992 erschienenen Begleitband reproduziert findet, in einem vier Jahre jüngeren Nachschlagewerk zur Photographie des 20. Jahrhunderts sowie in einer 1997 wiederaufgelegten Veröffentlichung von 1980, die eine von Doisneau selbst zusammengestellte Auswahl seiner Aufnahmen enthält6. Der weitaus größte Teil seiner Aufnahmen stammt aus Paris und den südlich angrenzenden Vorstädten der sogenannten “Banlieue”. Unter letzterer hat man einen ab Mitte des 19. Jahrhunderts sich herausbildenden Siedlungsgürtel an der Peripherie der ständig anwachsenden Hauptstadt zu verstehen, “wo große Areale als Baugebiete eingenommen wurden, ohne daß hier jedoch in einem geordneten städtebaulichen Programm eine Koordination gefolgt wäre. Vielmehr kam es zu einem unkontrollierten Wachstum, häufig in Gebiete hinein, in denen jede Infrastruktur fehlte”7.
Einzig Brigitte Ollier hat bisher den Versuch unternommen, das Doisneausche Oeuvre thematisch zu gliedern: “La Guerre”, “Trafic”, “Paris travaille”, “Les Halles”, “Marchés”, “Dimanche”, “Au Bord de l’Eau”, “Vitrines et Passages”, “Paris retraversé”, “Banlieue”8. Abgesehen davon, daß es erstaunt, daß Olliers 665 Seiten umfassendes und bald ebenso viele Abbildungen enthaltendes Werk zwar Doisneaus kurzgefaßte Biographie komplett präsentiert, also für die Jahre 1912 bis 19949, die Photographien aus der Zeit nach 1982 jedoch dem Lesepublikum vorenthält, scheinen ihre Kategorien wenig plausibel zu sein: Allzuviele Überschneidungen lassen sich da ausmachen, dies allein zwischen den Bereichen Verkehr und Arbeit, Arbeit und Les Halles, Sonntags und Am Ufer, um nur drei Beispiele zu nennen. Weit eher geeignet, um das photographische Werk Robert Doisneaus aus dem genannten Zeitraum zu erfassen, sind aus meiner Sicht die im folgenden präsentierten sechs Themengruppen:
1. Arbeit
1. Der Kuß auf dem Rathausplatz. Paris 1950
2. Foxterrier auf dem Pont des Arts. Paris 1953
3. Diono, der Hundetrainer. Paris 1946
4. Der blinde Akkordeonspieler in der Rue Mouffetard. Paris 1951
5. Die junge Akkordeonspielerin in einem Café in Les Halles. Paris 1953
6. Im Metro-Bahnhof Les Halles. Paris 1945
7. Obsthändler in der Rue Mouffetard. Paris 1951
Hierzu gehören der Hundetrainer und der Freiluftmaler auf dem Pont des Arts genauso wie der Akkordeonspieler im Menschengetümmel der Rue Mouffetard und die Akkordeon-spielerin im Café nahe Les Halles, der Bouquiniste vom Seine-Ufer und der Arbeiter im Gaswerk genauso wie die Fahrkartenentwerterin in der Metrostation “Les Halles” sowie die Obsthändler am Straßenrand. Nie stellt Doisneau Porträts im Sinne von Nahaufnahmen, möglicherweise gar mit neutralem Hintergrund, her.
Stets erzählen seine Bilder Geschichten; um nur einige zu skizzieren: Der Hundetrainer hat einen Hund auf seinem Kopf sitzen und übt offensichtlich das Balancehalten ein; sein kleiner Sohn beobachtet ihn und versucht, ihn in Haltung und Gesichtsausdruck nachzuahmen; das Ganze findet in der heimischen Wohnung statt. Der im Zentrum des Bildes stehende, von hinten aufgenommene Freiluftmaler verdeckt mit seinem Körper sein auf einer Bank sitzendes, und zwar, anders als das in Arbeit befindliche Gemälde auf der Staffelei es zeigt, sicherlich nicht unbekleidetes Modell. Währenddessen blickt ihm, ebenfalls mit dem Rücken zum Betrachter, ein Mann, der seinen Foxterrier ausführt, über die Schulter. Der blinde Akkordeonspieler geht konzentriert und ernst seiner Tätigkeit nach, während sich hinter ihm eine Menschentraube um etwas nicht Erkennbares versammelt und daneben ein junger Mann etwas auf einen Block zeichnet. Auf den Schultern von des Buchhändlers völlig verschmutztem Mantel und auf seinem Hut klettern drei Tauben umher. Die beiden Obsthändler hinter ihren Karren hat Doisneau genau in dem Moment photographiert, als ein sich küssendes Paar sie passiert. Und die Fahrkartenentwerterin befindet sich in einer verbalen Auseinander-setzung mit einer Dame, die ein großes Bündel Gemüse oder anderer Pflanzen auf dem Kopf transportiert, während sich hinter ihr eine Schlange bildet.
2. Kommunikation
Zu dieser Themengruppe gehören die Kirchgänger auf dem Heimweg und die Vereinsmitglieder beim Umzug wie die in unterschiedlicher Gruppierung auf Parkbän-ken Sitzenden, die den Bahnhofsvorplatz der südlichen Vorstadt Ivry Überquerenden und die im Bistro innen oder außen Versammelten wie ein Ehepaar beim Betrachten der Auslage einer Kunsthandlung sowie die zahlreichen Gruppen von Kindern und Jugendlichen.
8. Kirchgänger unter freiem Himmel. Arcueil 1945
9. Die Herren vom Verein Quintaine. Paris 1952
10. In den Anlagen des Square du Vert-Galant.
Paris 1950
11. Place de la Gare. Ivry-sur-Seine 1949
12. Der schräge Blick. Vor der Kunsthandlung Romi. Paris 1947
13. Die Kinder und die Taube. Paris 1953
14. Der kleine General. Paris 1950
Die Kirchgänger stehen, offensichtlich nach der Messe, auf einer vorstädtischen Kreuzung, getrennt nach Damen, jüngeren und älteren Männern. Die würdigen, singenden Herren Vereinsmitglieder tragen etwas eng geratene helle Schärpen über ihren Mänteln. Der stehende Polizist unterhält sich mit einer vor ihm auf einer Parkbank sitzenden Dame, während diese, von ihm abgewandt, ein im Hintergrund sich küssen-des Pärchen beobachtet; das dazugehörige Kind spielt nicht mit seiner Spielzeug-dampfwalze, sondern steht auf der nächsten Bank und betrachtet etwas, das sich außerhalb des Bildes befindet. Die den Bahnhofs-vorplatz Überquerenden gehen nicht allein, sondern in Gruppen von zwei bis fünf Menschen, ohne daß ein einziges Auto in Sicht wäre. Das ältere, aus dem Ladeninne-ren heraus photographierte Ehepaar scheint sich über ein Bild, dessen Rückseite dem Betrachter zugewandt ist, zu unterhalten, was sich aber schnell als Trugschluß erweist, wenn man dem Blick des Mannes folgt und als Objekt seines Interesses die Rückenansicht einer mit Ausnahme der Strümpfe unbekleideten jungen Dame entdeckt.
3. Fest und Feier
15. Strenge Intimität. Montrouge 1945
16. Kaffe mit Sahne. Paris 1948
Da gibt es zuerst die unterschiedlichen Hochzeitsszenen, die nie ein feierlich in die Kirche einziehendes Paar mitsamt verwandtschaftlichem Gefolge oder ein sich fröhlich zulächelndes Paar zeigen, sondern stets davon abweichende Konstellationen: die Braut auf der Wippe, die sich ihren Bauch hält, wobei sich nicht genau bestimmen läßt, ob vor Lachen oder vor Schmerz; wippt der möglicherweise auf der Gegen-seite sitzende, aber nicht im Bild sichtbare, Bräutigam gar zu heftig? Ist sie gar schwan-ger? Das einsame Paar in Hochzeitsklei-dung, das, von hinten aufgenommen, über das regennasse Kopfstein-pflaster einer Straße geht, direkt auf ein nicht unbedingt einladendes “Café Restaurant” im Parterre eines Mietshauses zu. Das Bier trinkende Paar in Hochzeitskleidung am Tresen einer Bar, eingerahmt unter anderem von einem Mann, vielleicht einem Kohlenträger, dessen körperliche Arbeit deutliche Spuren im Gesicht und an der Kleidung hinterlassen hat und somit einen deutlichen Kontrast zum Weiß des Hochzeitskleids markiert.
4. Vergnügen
17. An der Front. Paris 1953
18. Radrennen querfeldein. Gentilly 1946
19. Das Gallia-Kino. Gentilly 1948
20. Der letzte Walzer am 14. Juli. Paris 1949
21. Träume eins Tätowierten. Paris 1952
Zu dieser Gruppe gehören Szenen von Menschen an der Schießbude und bei der Ballettvorführung wie beim Radrennen und vor dem Vorstadtkino, beim Boule-Wettbewerb wie beim Tanz am 14. Juli, auch beim Betrachten der Pin-Up-Wand über dem eigenen Bett.
Der auf ein bestimmtes Ziel an der Rückwand der Schießbude anlegt, ist ein Soldat. Eine der Balletteusen hat sich zu Füßen des Publikums niedergelassen, den Arm auf das Knie eines Besuchers gestützt, der, im Gegensatz zu der neben ihm sitzenden Dame, darüber schmunzelt. Vor dem “Cinema Gallia” wartet, wohl an einem Sonntagnachmittag, eine Schlange von Menschen jeglichen Alters auf Einlaß. Am 14. Juli wird mitten auf der Straße getanzt, in größerer Gesellschaft mitten am Tag, als einsames Paar tief in der Nacht.
5. Prominenz
22. Die Brote von Picasso. Vallauris 1952
Da gibt es Aufnahmen von dem Chansonnier und Dichter Jacques Prévert, den Malern Georges Braque und Pablo Picasso, den Bildhauern Alberto Giacometti und César, dem Romancier Raymond Queneau und dem Zeichner Saul Steinberg.
Prévert steht zigarettenrauchend, und offensichtlich seinen Hund ausführend, vor einem Hemdengeschäft. Picasso sitzt allein an einem für drei Personen gedeckten Küchentisch, zu beiden Seiten seines Tellers direkt an der Tischkante je ein hand- oder besser prankenförmiges Gebäckstück, so daß man den Eindruck gewinnt, es handele sich um seine Hände. Giacometti trinkt Kaffee, raucht Zigaretten und liest Zeitung in einem Café. Queneau geht durch die regennassen Straßen der Güterbahnhof-Gegend. Außer César ist keiner der Künstler in seiner spezifischen berufsbezogenen Umwelt festgehalten, sondern in ganz alltäglichen, in Allerwelts-Situationen.
6. Bizarrerie
Dieser thematische Bereich läßt sich festmachen an Porträts von verschiedenen eher exzentrischen Sammlern, Clochards sowie geradezu skurril Tätowierten.
23. Der Sammler Gilbert Fruigier. Paris 1951
24. Der Clochard Coco. Paris 1952
Doisneaus Photographien in der hier behandelten Phase (1945-1960) seines Schaffens verfügen über eine starke narrative Bild-struktur, deren Sinn sich nicht sofort ersch-ließt. Stets geschehen mehrere Handlungen in einem Bild, die es zunächst zu bestimmen gilt, wobei die Hauptquellen für diese Auseinandersetzung zum einen aus der Photographie selbst, zum anderen aber ebenso aus der jeweils dazugehörigen Bildunterschrift bestehen. Um Beispiele zu nennen: Wenn Doisneau die Aufnahme vom beobachteten Freiluftmaler auf der Seine-Brücke vor dem Louvre “Fox-terrier sur le Pont des Arts” nennt, dann bezieht sich das darauf, daß das einzige Lebewesen, das nicht an diesem doppelten Über-die-Schulter-Schauen teilnimmt, der in die Kamera blickende Hund ist; dennoch stehen im Zentrum die handelnden Menschen. Diese konkrete Titelgebung kann aber auch auf einen Bezug zu den vielen Brücken-bildern der französischen Impressionisten verweisen, bei denen allerdings die Brücke einen Teil einer Landschaft oder Stadtland-schaft darstellt, nicht aber einen Handlung-sort, bei denen also die Fernsicht dominiert, nicht die Nahsicht. Zwei beispielhafte Bilder des “Pont des Arts” von Pierre-Auguste Renoir (1867) und Stanislas Lépine (um 1880) verdeutlichen dies: Die Brücke ist im Mittel- bis Hintergrund zu sehen, nicht im Vordergrund10. Wenn Doisneau das Bild vom einsamen Hochzeitspaar auf dem Weg ins Café “La Stricte Intimité” nennt, dann bezieht sich das auf den Moment der Aufnahme; was davor oder danach passiert, ob das Paar die Vorhut einer größeren Festgesellschaft bildet oder ob es die Nachhut bildet, während die anderen schon im Café versammelt sind, oder ob es tatsächlich völlig einsam und allein unterwegs ist, das bleibt offen. Wenn Doisneau Picasso in einer Alltagssituation wie derjenigen kurz vor dem Essen zeigt und sein Photo “Les Pains de Picasso” nennt, dann stellt dies auch ein Wortspiel dar, was sich auf die nicht abgebildeten “Les Mains de Picasso”, mit die wichtigsten Körperteile eines Künstlers, bezieht, die hier spielerisch durch Gebäckstücke ersetzt zu sein scheinen11.
Bei einem Großteil seiner Aufnahmen gibt Doisneau mit der Bildunterschrift einen, oft augenzwinkernden, Hinweis auf mögliche Interpretationsweisen. Thema, Motiv und Titel eines Bildes gehören also stets zusammen, gleich ob sie sich nun entsprechen oder eher in Kontrast zueinander stehen. Von daher erscheint es als paradox, daß Ulrich Hägele in seinem Modell zur kulturwissenschaftlichen Bildkunde die Auseinandersetzung mit dem Bild selbst in der ersten, nämlich der deskriptiven, Phase, die sich mit dem Wahrnehmungskontext befaßt, ansiedelt, die Auseinandersetzung mit dem Bildtitel dagegen der zweiten, der analytisch-diskursiven, Phase, die sich mit dem visuellen Kontext befaßt, zuordnet12. Jeder sonntägliche Besuch in der Alten Pinakothek in München und jeder Wartezimmeraufenthalt beim Zahnarzt in Tübingen führen einem Kulturforscher vor Augen, daß sowohl Kunstwerke als auch Illustriertenartikel von Fall zu Fall unterschiedlich erschlossen werden, einmal vom Bild her, einmal von der Bildbeschriftung oder Bildunterschrift oder Bildbeschreibung her. Solange aber keine eindeutigen Befunde zu diesbezüglichen Rezeptionswei-sen vorliegen, solange immer noch ungeklärt ist, was vorrangig in welcher Situation und in welcher Weise wahrgenommen wird, Bild oder Text, und in ersterem Bildvorder-grund, Bildmittelgrund oder Bildhinter-grund13, sollte man beide Ebenen zusammen erörtern, zuerst in einem deskriptiven, dann in einem analytischen und zuletzt in einem interpretatorischen Schritt.
Doisneaus fünfte Schaffensphase (1960-1978) betitelt Hamilton “Changing Perspectives”, weil Doisneau sich unter dem Einfluß des das Illustrierten- und Magazin-wesen verdrängenden Fernsehens auf neue Wege begibt und, auch wenn das eine oder andere Bild noch an die humanistische Photographie erinnert, insgesamt massenmedial, also auch wieder in der Werbung, präsent ist, mit Farbaufnahmen und Trickaufnahmen experimentiert und nicht mehr nur in Paris und den Vorstädten seine anspielungsreichen und oft humorvollen Bilder aufnimmt14.
Die humanistische Photographie spielt dagegen erneut eine zentrale Rolle in der sechsten Phase seines Schaffens (1978-1992), welche Hamilton mit dem Schlagwort “Banlieue Revisited” charakterisiert. Zum einen gibt es da Doisneaus Enga-gement für ein Reformprojekt der staat-lichen Raumordnungsbehörde, bei dem es ihm in seinem Beitrag darum geht, die Bausünden der modernen Stadtplanung und ihre Auswirkungen vor allem in den Vorstädten der “Banlieue” und in den ab Mitte der 1960er Jahre auf der grünen Wiese errichteten sogenannten “Villes Nouvelles”15 vorzuführen: etwa verlassene Spielplätze vor Hochhäusern oder ein sich in der Weite eines arenaähnlichen Platzes inmitten einer Neubausiedlung verlierendes Kind. Zum anderen gibt es, wenige Jahre später, ein Wiederaufleben seines früheren Ansatzes, gleichermaßen in Motivwahl, Stil und schwarz-weißer Farbgebung. Wieder sucht (und findet) er die Menschen in der alten Welt der Vorstädte wie St. Denis oder Gentilly im Süden der Hauptstadt, die sich vom zugefrorenen Kanal entfernenden beiden Männer oder die am sommerlichen Kanal spielenden Jungen, den Kommunika-tionsort Gemüsemarkt, das ein Café betreibende ältere Paar und die beiden Mechaniker in einer Hinterhof-Autowerk-statt, die familiäre oder familienähnliche Versammlung und die Gruppen von Jugend-lichen zwischen Blocks aus dem sozialen Wohnungsbauprogramm der 1920er Jahre. Das eine oder andere Gebäude kennt man noch von früheren Bildern her.
Und auch in den neuen Zonen derselben Vorstädte findet er Motive für humanistische Photographie, die vor dem Hintergrund einer bildfüllenden Wohnhochhaus-Fassade auf einer inszenierten Felslandschaft herumkletternden Kinder oder den einsam seinen Einkaufswagen eine Straße mit vielen geparkten Autos entlang ziehenden Mann, in dessen Rücken sich eine Hochhausstadt erhebt, der sich einem offensichtlich kleinteiligeren, also älteren, Ortsteil nähert. Auf diesem Bild findet menschliche Kommunikation nur in künstlerischer Form statt, als sich umarmendes Gipsfiguren-Paar in dem Hinterhof, über den Doisneau hinweg seine Aufnahme macht. Dieser Hinterhof jedoch ist ummauert, so daß man von der Straße aus die Figuren nicht sehen kann, die zudem von der Luftverschmutzung arg gezeichnet sind.
Doisneaus Aufnahmen verraten, wie gezeigt, einen deutlichen Humor, bisweilen eine gewisse Melancholie. Beide Momente treffen sich in der Selbstaussage: “Die Menschen tragen einen Reichtum mit sich herum, von dem sie nichts ahnen […]. Meine Arbeit ist, ihn sichtbar zu machen”16. Und vor diesem Hintergrund inszeniert er seine Bilder, ganz so, wie das jeder Kunstphoto-graph, jede Bewerbungsphoto-Porträtistin, jede volkskundliche Dokumentarphotogra-phin oder jeder Freizeit-Knipser vollführt. Von anderen Voraussetzungen auszugehen, würde nichts anderes als Naivität im Umgang mit Photographien verraten, wie, bezogen auf Doisneau selbst, zuletzt geschehen im Jahr 1993, als der Photograph sein berühmtgewordenes Bild “Baiser de l’Hôtel de Ville” (1950) als gestelltes Bild enttarnt und sich deswegen in der Folgezeit bisweilen harscher Kritik ausgesetzt sieht17.
Was bedeutet das schon, “gestelltes Bild”? Als Kulturwissenschaftler weiß man von der Phase der Datengewinnung an Ort und Stelle im interessierenden sozialen Umfeld her, wie sehr man als Forscher das Feld beeinflußt. Warum sollte sich im Bereich der Photographie ein Zusammen-treffen von Aufnehmendem und Aufgenom-menen anders gestalten? Und wo befindet sich dann die Grenze zwischen der selbst eingenommenen Pose für den Photographen und der vom Photographen inszenierten Pose? Es scheint ohnehin relevanter, sich mit den Bedingungen auseinanderzusetzen, die den Photographen ganz bestimmte Wirklichkeitsausschnitte aufnehmen und andere Wirklichkeitsausschnitte nicht aufnehmen lassen, mit Bedingungen, die einem sich wie auch immer zusammensetzenden Publikum ein ganz bestimmtes Bildprogramm präsentieren. Anders gesagt: Nur mittels der Erkundung von Themen und Motiven einschließlich dazugehöriger Betextung kann man sich den bildlichen Aussagen nähern.
Robert Doisneau steht als Photograph großstädtischer und vorstädtischer Nahwel-ten durchaus in der Tradition jener Stadtphotographen des späten 19. Jahrhunderts, die im Zusammenhang mit der herandrängenden Modernisierung oder auch Urbanisierung alter Städte eine Art heimatkundlich-topographische Photographie betreiben. Einer der wenigen bekannten Künstler dieser Art ist in Frankreich der schon genannte Eugčne Atget (1857-1927), der ab 1891 mehr als zwei Jahrzehnte lang seine Hauptstadt-Aufnahmen als “Abschieds-blicke” auf das alte Paris gestaltet und sich dabei “auf die verblichenen Reize der vorindustriellen Altstadtkerne, die bedrohten Hof- und Winkelidyllen, skurrilen Ladenfronten oder die noch verbliebenen Reste von Natur inmitten einer sich zuneh-mend verdichtenden Bebauung” oder, noch einmal anders gesagt, auf “das schon Ver-fallende, von der Zerstörung Bedrohte und zum Abriß Freigegebene”18 konzentriert.
Von Doisneau ist eine partiell an Atget erinnernde Erklärung überliefert: “Ich […] gehe am liebsten in die bedrohten Viertel. Ich liebe diese Quartiers, wo kein Haus wie das andere gebaut ist, ich fühle mich nur wohl in Straßen, wo man sie alle zusammen sieht, den Rentner mit seinem weißen Hündchen, die Blumenfrau, das kleine Mädchen auf Rollschuhen und den dickleibigen Mann. Um im Gewimmel des Lebens zu arbeiten, muß man sich auf solide Grundsätze stützen und darf sich nicht ablenken lassen. Außerdem hatte ich beschlossen, nur aus dem Alltäglichen zu schöpfen und alles Malerische zu vermeiden”19.
In dem Zitat werden drei seine Aufmerksamkeit erregende Bereiche angesprochen, die bauliche Umgebung, die darin lebenden Menschen sowie das Alltägliche. Im Gegensatz aber zum lange vor ihm tätigen Atget wendet er das Stadtphotographie-Verfahren jedoch nicht auf die baulichen Gegebenheiten allein an (das “alte” Paris), sondern stets auf Menschen oder auf bau-liche Gegebenheiten im Zusammenhang mit betroffenen Menschen, die bei ihm stets im Zentrum stehen, was das Humanistische an dieser Art von Reportage-Photographie ausmacht. Zu Doisneaus Orten gehören bestimmte Menschen. Und zu seinen Menschen gehören bestimmte Orte. Und der ihn interessierende Alltag wird nicht nur melancholisch unter dem Aspekt des Verfalls betrachtet, sondern, weil derselbe sich weiterentwickelt, durchaus mit Humor in allen seinen Varianten20.
In Umkehrung zur historischen Entwicklung des Mediums Photographie, welches den öffentlichen Bereich in den Privatbereich eindringen läßt, etwa durch Bilder von politischer oder künstlerischer Prominenz, durch Sammelalben und -bilder, durch Zeitschriften und Illustrierte, benutzt Doisneau, und das betrifft einen Großteil seines Oeuvre, dasselbe Medium, um Privates an die Öffentlichkeit zu bringen. Auch wenn es paradox erscheint: Dieses Private definiert sich dadurch, daß es in der Öffentlichkeit der Straßen und Plätze oder der Halböffentlichkeit der Bistros und Cafés stattfindet. Anders gesagt, Doisneau sucht und findet dort Familiäres und Familiales. Seine Familienorientierung in einem weiten Verständnis läßt zunächst den Eindruck entstehen, er photographiere in “Knipser”-Manier. Dieser Eindruck täuscht jedoch, da die, wie Timm Starl herausgearbeitet hat, seit dem späten 19. Jahrhundert private Erinnerungsbilder aufnehmenden Amateur-photographen eine deutliche Vorliebe für die Themen “Urlaub”, “Reise”, “Freizeit”, “Familie/Freunde” (in dieser Reihenfolge) und das Motiv “Personen” bei gleichzeitiger marginaler Behandlung von Themen wie “Arbeit” zeigen21. Aufnahmen von Urlaub und Reise spielen bei Doisneau überhaupt keine Rolle, dagegen dominieren seine stets auf “Personen” gerichteten Aufnahmen in der Tat die Anlässe “Familie/Freunde”, “Freizeit”, und nicht zuletzt auch “Arbeit”.
Genau dieser Befund aber stellt Doisneau eher an die Seite von Zeitgenossen wie Brassaď (1899-1984), Henri Cartier-Bresson (*1908) und auch André Kertész (1894-1985)22, mit denen er schon 1951, 1965, 1972 und 1976 in Gruppenausstellungen vertreten ist23, auch an die Seite von August Sander (1876-1964) und Friedrich Seidenstücker (1882-1966)24, weniger jedoch an die Seite der Knipser, weniger auch an die Seite von Lewis Wickes Hine (1874-1940) und an die der Farm Security Administration mit ihren Reportage-Projekten25, welche sich durch ein viel direkteres, geradezu operatives, soziales Engagement auszeichnen.
Gemeinsam ist allen hier genannten Künstlern, daß sie in dem ihnen eigenen Medium, der Photographie, anderen Menschen etwas vom Alltag in einem bestimmten Raum, einer bestimmten Zeit und einer bestimmten sozialen Umwelt erzählen. Diese Photographien gestatten, vermittelt über ein Bild und Text umfassendes Zeichensystem, Einblicke in und Verständigungen über bestimmte Wirklichkeit-sausschnitte, gleich ob es sich dabei um Spezifika des Hausbaus, der Wohnungseinrichtung, der Haushaltsausstattung, der Kleidungsgewohnheiten, der Arbeit, der Freizeit oder der Kommunikation, um zentrale Bereiche menschlichen Lebensvoll-zugs zu nennen, handelt. Diese Photographien stellen also Quellen dar, die man zunächst adäquat dechiffrieren muß, um zu weiterreichenden Schlußfolgerungen über ihre dokumentarische Bedeutung zu gelangen. Wenn ich mich in meiner Skizze auf die Erörterung des Themas “Bilder vom Leben” konzentriert und die Themen “Leben der Bilder” sowie “Leben mit Bildern” zunächst ignoriert habe, dann hat das durchaus seinen Sinn: Parallel zum Anwachsen multidisziplinärer Veröffen-tlichungen über das Medium Photographie kann man sich nämlich bisweilen nicht des Eindrucks erwehren, daß es dieses immer noch zuallererst “exakt lesen zu lernen gilt”26.
Notes
1 Vgl. Jacques Prévert: Auf die Theke gekritzelt. Photos Robert Doisneau. In: Paris. Hamburg 1969. S. 34-37 (Merian 22. 1969. 9). – Pierre Schneider: Robert Doisneau. In: Paris. Hamburg 1983. S. 46-53 (Merian 36. 1983. 12). – Simon Worrall: Robert Doisneau. AugenBlicke. In: Paris. Hamburg 1991. S. 46-54 (Geo Special Nr. 4, v. 14.8.1991).
2 Robert Doisneau: Drei Sekunden Ewigkeit. 101 Photographien. Mit einem Essay des Photographen. München, Paris, London 1997. S. 24.
3 David Elliott: Foreword. In: Peter Hamilton: Robert Doisneau Retrospective. London 1992. S. 9/10, hier S. 9.
4 Hamilton 1992 (wie Anm. 3), S. 16.
5 Hamilton 1992 (wie Anm. 3), S. 30.
6 Hamilton 1992 (wie Anm. 3). – Doisneau 1997 (wie Anm. 2). – Photographie des 20. Jahrhunderts. Museum Ludwig Köln. Köln 1996.
7 Alfred Pletsch: Paris. Phasen seiner geschichtlichen und städtebaulichen Entwicklung. In: ders. (Hg.): Paris im Wandel. Stadtent-wicklung im Spiegel von Schulbüchern, Wissenschaft, Literatur und Kunst. Frankfurt am Main 1989. S. 27-45, hier S. 41 (Studien zur Internationalen Schulbuch-forschung. 63). – Zur Volkskunde und Geschichte der Vorstädte vgl.: Colette Pétonnet: On est tous dans le brouillard. Ethnologie des banlieues. Paris 1979. – Dies.: Espaces habités. Ethnologie des banlieues. Paris 1982. – Alain Faure: Les premiers banlieusards. Aux origines des banlieues de Paris 1860-1940. Paris 1991.
8 Brigitte Ollier: Robert Doisneau. Paris 3, 1998.
9 Ollier 21998 (wie Anm. 8), S. (668)-(671).
10 Vgl. Peter H. Feist: Der Impressionismus in Frankreich. In: Ingo F. Walther (Hg.): Malerei des Impressionismus 1860-1920. 2 Bde. Köln 1996. Bd. 1. S. 9-400, hier S. 53, 202.
11 Hamilton 1992 (wie Anm. 3), S. 12, 83, 31.
12 Ulrich Hägele: Fotodeutsche. Zur Ikonographie einer Nation in französischen Illustrierten 1930-1940. Tübingen 1998. S. 55 (Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts. 88).
13 Vgl. Rudolf Arnheim: Anschauliches Denken. Zur Einheit von Bild und Begriff. Köln 1972. – John Berger: Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens. Berlin 1981.
14 Hamilton 1992 (wie Anm. 3), S. 16, 40-42, 95-112.
15 Hamilton 1992 (wie Anm. 3), S. 43-46. – Vgl. Wolfgang Brücher: Die jüngere Entwicklung der Pariser Region – Dezentralisierung oder Dekonzentration? In: Pletsch (Hg.) 1989 (wie Anm. 7), S. 123-137. Hier S. 126. – Jean Steinberg: Rolle und Zukunft der Neuen Städte in der Ile-de-France. In: ebd. S. 113-122.
16 Schneider 1983 (wie Anm. 1), S. 52.
17 Vgl. Ursula Bode: Drei Sekunden Ewigkeit. Photographien von Robert Doisneau in Düsseldorf. In: Die Zeit, Nr. 15 v. 4. April 1997. S. 48.
18 Winfried Ranke: Photographie und Heimatkunde. In: Hauberg und Eisen. Landwirtschaft und Industrie im Siegerland um 1900. Photographien v. Peter Weller u.a. Texte v. Winfried Ranke, Gottfried Korff. München 1980. S. 9-16, hier S. 11. – Vgl. Reinhold Mißelbeck: Atget, Eugèe. In: Photographie 1996 (wie Anm. 6), S. 24-27.
19 Doisneau 1997 (wie Anm. 2), S. 18.
20 Hamilton 1992 spricht von “comedy, parody, pathos and satire” (wie Anm. 3), S. 14.
21 Timm Starl: Themen und Motive der privaten Fotografie. In: Ueli Gyr (Hg.): Soll und Haben. Alltag und Lebensformen bür-gerlicher Kultur. Zürich 1995. S. 161-178, hier S. 166, 167, 171, 173. – Vgl. ders.: Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980. München, Berlin 1995. S. 144/145.
22 Marianne Bieger-Thielemann: Brassaď. In: Photographie 1996 (wie Anm. 6), S. 80-83. – Reinhold Mißelbeck: Cartier-Bresson, Henri. In: ebd. S. 94-101. – Ders.: Kertész, André. In: ebd. S. 330-335.
23 Doisneau 1997 (wie Anm. 2), S. 24.
24 Reinhold Mißelbeck: Sander, August. In: Photographie 1996 (wie Anm. 6), S. 566-577. – Ders.: Seidenstücker, Friedrich. In: ebd. S. 612-615.
25 Marianne Bieger-Thielemann: Hine, Lewis Wickes. In: Photographie 1996 (wie Anm. 6), S. 254-259. – Dies.: Lange, Dorothea. In: ebd. S. 370-373.
26 Wolfgang Brückner: Fotodokumen-tation als kultur- und sozialgeschichtliche Quelle. Das Photoalbum 1858-1918. München 1975, S. 16. – Vgl. Diethart Kerbs: Methoden und Probleme der Bildquellen-forschung. In: Revolution und Fotografie. Berlin 1918/19. Eine Ausstellung der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst. Berlin 1989. S. 241-262.