Norina Procopan
Hölderlins Geographie als „vaterländische Sangart“
A. Hölderlins Verständnis
des Vaterländischen
„…eine fast gränzenlose Vorwelt […] wirkt und drückt auf uns“
der Bruch mit der griechischen Tradition
Das gesamte literarische Schaffen Hölderlins und vor allem der Themenkreis seiner späten Hymnen vidmet sich der Frage nach dem Verständnis der Zeit, der deutschen Gegenwart, die er nach einigen in der Literatur und den theoretischen Überlegungen geläufigen Vorstellungen mittels der Analogiespannung zum Griechischen zu beantworten versuchte. So begegnet man bereits im Frühwerk der Bemühung, das Eigene, das er häufig mit den Metaphern der ‚hesperischen Orbis‘ oder des ‚Vaterländischen‘ umschreibt, mit Blick auf das Griechische zu definieren. Hölderlin sieht den Auftrag, der von den Göttern ihm zugewiesen ist, das „Bestehende“ (‘Wie wenn am Feiertage’, StA II, 118-120) zu ergreifen und zu deuten: ein Ausharren oder Bleiben, das sich konstituiert in Wanderungen, in antiken und hesperischen Reisen von Helden, in geschichtlichen Bewegungen, auf Zeichen der Sichtbarkeit verweisend.
Hölderlins Auseinandersetzungen mit der Frage, wie sich das Heimatländische im Verhältnis zum Anderen, zur Fremde und Ferne definiere, die, sowohl in der Überbrückung des Raumes als auch in der Überbrückung der Zeiten, als Gang zwischen der Orbis der alten Griechen und der hesperischen thematisiert wird, erfahren ihre dichterische Gestaltung in den Oden ‘Der Gang aufs Land’, ‘Stutgard’, ‘Der Wanderer’, ‘Heimkunft’, ‘Brod und Wein’ und in den Hymnen ‘Die Wanderung’, ‘Am Quell der Donau’, ‘Der Rhein’, ‘Andenken’ und ‘Der Ister’. Seine theoretischen Schriften, beginnend mit dem Aufsatz ‘Der Gesichtspunct aus dem wir das Altertum anzusehen haben’ (StA IV, 221 f.), bis hin zu den späten Anmerkungen seiner Sophokles-Übersetzungen zeugen von einer allmählichen Entwicklung dieses Gedankens.
Die Aneignung der griechischen Sphäre, die bei ihm des öfteren unter dem Sammelbegriff ‚Hellas‘ erscheint und das ‚Orientalische‘ als ein Wesenselement in sich enthält, („Nun aber sind zu Indiern / Die Männer gegangen“, StA II, 189, ‘Andenken’) muß im Licht einer Zeit verstanden werden, die die griechische Kultur entdeckte und sich anzueignen versuchte. Aufgrund Winckelmanns Deutung der griechischen Plastik, die die ganze Ästhetik der Zeit nachhaltig beeinflußt hatte, kam es zu der Überzeugung, daß die Möglichkeit der Moderne einzig und allein in der Nachahmung der Alten liege. Die „edle Einfalt“ und die „stille Größe“ der griechischen Kultur wurden als Kanon für jede Kunst verstanden. Es überascht daher nicht, daß um diese Zeit etwa Johann Heinrich Voß, ein Schüler Klopstocks, den Homer übersetzte. Sein Lehrer selbst trug – neben Winckelmann – zu dieser Wende bei („Der Liebling der Griechen“), vor allem durch die Entdeckung Pindars („Auf meine Freunde“), Horaz’ Ode ‘Pindarum quisquis studet aemulari’(Carm 4, 2) und Longinus’ Schrift ‘Über das Erhabene’ – eine Entdeckung, die die gesamte Pindarrezeption in der Epoche, bis hin zu Hölderlin, nachhaltig geprägt hat.
Hölderlins Rezeption der Antike steht aber nicht im Zeichen dieses Orientierungsmodells der bewußten Nach-ahmung und des Lernen-Wollens, sondern er erkennt wie Schiller in seinem Aufsatz ‘Über naive und sentimentalische Dichtung’, daß der zeitliche Abstand einen Unterschied entstehen ließ, der eine Identifikation der hesperischen Kultur mit der griechischen, oder auch nur eine Nachahmung derselben ausschließt. Er bezweifelt in einer ersten Phase zwar nicht die griechische Vollkommenheit, versucht aber, am Vorbild dieser, ein den gegenwärtigen Zuständen angemessenes Reifen der hesperischen Kultur zu verfolgen. In Anlehnung an Schillers These von der sentimentalischen Dichtung versteht Hölderlin die Griechen zunächst als Ideal, das infolge einer durch die Kunst verursachten Trennung von der ursprünglichen Einfalt der Natur1 seine Wiederherstellung in der Gegenwart erlebt, äußert aber seine Bedenken gegenüber angeblich notwendiger Imitation und sentimentalischer Identifika-tion mit den Griechen in dem Aufsatz ‘Der Gesichtspunct aus dem wir das Altertum anzusehen haben’. Hier weist Hölderlin auf den Fehler hin, dem seine Zeit erliegt: die Knechtschaft, in die sie sich zum Altertum begibt, den eigenen Trieb der spezifischen Entwicklung darüber jedoch verkennend.
Das „Angenommene“, das „Positive“ des Altertums – das Hölderlin hier im Hegelschen Sinne als das schon fest Geformte und historisch Vorgegebene versteht – muß, um die eigene „besonder[e] Richtung“, den eigenen „Bildungstrieb“ wahrnehmen zu können, abgelehnt werden. Die „gränzenlose Vorwelt“ der Antike gefährdet die natürliche Entwicklung des Eigenen dadurch, daß sie durch Vorarbeit den rohen, den ungeformten Stoff, den zu gestalten der Bildungstrieb bewußt bestrebt ist, diesem selbst entzieht. Darum müssen wir uns, um das Eigene finden zu können, von der Vollkommenheit der Griechen befreien: entweder wir lassen uns „von Angenommenem, und Positivem“ erdrücken, oder wir müssen „unsere uns eigene Richtung vorsezen“, indem wir uns
gegen alles erlernte, gegebene, positive, als lebendige Kraft entgegen […] sezen […]. Und was allgemeiner Grund vom Untergang aller Völker war, nemlich, daß ihre Originalität, ihre eigene lebendige Natur erlag unter den positiven Formen, unter dem Luxus, den ihre Väter hervorgebracht hatten, das scheint auch unser Schiksaal zu seyn, nur in größerem Maße, indem eine fast gränzenlose Vorwelt, die wir entweder durch Unterricht, oder durch Erfahrung innewerden, auf uns wirkt und drükt. (StA IV, 221 f.)
In diesem Aufsatz findet sich jedoch eine weitere, für Hölderlins künftiges Verstehen der Wechselwirkung zwischen Hesperischem und Griechischem ausschlaggebende Bemerkung: das griechische Vorbild sei nur insofern nötig, als es für den ihm entgegengesetzten eigenen Bildungs-trieb richtungsweisend und bestimmend ist:
Es ist nemlich ein Unterschied ob jener Bildungstrieb blind wirkt, oder mit Bewußtseyn, ob er weiß, woraus er hervorgieng und wohin er strebt. (StA IV, 221)
Was hier ansatzweise angedeutet wird – die notwendige Befreiung vom griechischen Buchstaben, der Übergang zum griechischen Geist und auch die Objektivierung desselben als der eigener Anlage entgegengesetzte Bildungstrieb – führt auf der Stilstufe der späten Hymnen zu einer Konkre-tisierung des Heimatländischen und der Fremde und deren gegenseitigen Wesens-Bestimmung.
Somit stehen die Figuration der Wanderungen der nach Pindars Vorbild unternommenen Ausflüge aus der Heimat in die Kolonie – wie in der Variante der Elegie ‘Brod und Wein’ dargestellt – , die räumlich polarisierten Kulturen Griechenlands und Hesperiens und die doppelten Bewegungen des Erinnerns und des Entwurfes auf die Zukunft (‘Brod und Wein’, ‘Die Wanderung’, ‘Andenken’) im Zeichen von Richtungs- und Gegenrichtungsmetaphern.
Der Nachweis im ersten Teil dieser Arbeit soll zeigen, inwiefern in Hölderlins Oden und Späthymnen die Gestaltung des Raumes und die dem Dichter aufgegebene Zukunftserfüllung von der Metapher der Richtung her unternommen werden. Zunächst soll anhand der Bemerkungen Hölderlins in seinen Briefen an Schiller, Böhlendorff, Wilmans und den Überlegungen über das Tragische in den ‘Anmerkungen zur Antigonä’ – in allen Texten geht es um das Verhältnis zwischen Antike und Moderne – die allmähliche Entwicklung dieses Problemkreises dargestellt werden, um anhand sich daraus ergebender Schlußfolgerungen zu untersuchen, inwiefern die Hymnen ‘Die Wanderung’ und ‘Der Ister’ auf die ihnen zugrundeliegende These Bezug nehmen und sich dadurch jene These erweitern lässt.
Wir sahen, daß in dem Aufsatz ‘Der Gesichtspunct aus dem wir das Altertum anzusehen haben’ die Griechen sich nicht mehr mit dem Ideal decken, wie es Hölderlin in der Gestalt Diotimas, als in einem individuellen Menschen verkörpert, veranschaulicht. In ihrem Schatten bleibt der Gegenwart nur die Rolle des Epigonentums übrig. Somit wäre der endgültige Bruch mit der Tradition erforderlich, um überhaupt einen Neuanfang erst ermöglichen zu können.
Diese Auffassung vertritt Hölderlin jedoch bloß vorübergehend, denn in einem Brief an Schiller schreibt er:
Ich habe mich seit Jahren fast ununterbrochen mit der griechischen Literatur beschäfftiget. Da ich einmal daran gekommen war, so war es mir nicht möglich, dieses Studium abzubrechen, bis es mir die Freiheit, die es zu Anfang so leicht nimmt, wieder gegeben hatte, und ich glaube, im Stande zu seyn, Jüngeren, die sich dafür interessiren, besonders damit nützlich zu werden, daß ich sie vom Dienste des griechischen Buchstabens befreie und ihnen die große Bestimtheit dieser Schriftsteller als eine Folge ihrer Geistesfülle zu verstehen gebe. (Nr. 232, 2.6.1801, StA VI, 421-423)
Die langfristige Auseinandersetzung mit der griechischen Literatur war deshalb notwendig, um die sich zunächst einstellende Abhängigkeit vom griechischen Vorbild überwinden und die ursprüngliche Freiheit in Auseinandersetzung mit dem Vorbild auf einer höheren Stufe wieder-gewinnen zu können. Die Befreiung „vom griechischen Buchstaben“ führt – wesentliche Bemerkung für die das ganze Spätwerk strukturierende Metapher der Richtung – zu der folgenden Einsicht: die griechische Literatur kennzeichne sich durch eine „große Bestimmtheit“. In dem oben erwähnten Homburger Aufsatz verweist Hölderlin auf den Unterschied zwischen uns und dem Trieb des Altertums, der
[…] unserem ursprünglichen Triebe […] entgegenzuseyn scheint, der darauf geht, das Ungebildete zu bilden. (StA IV, 221)
Diese Fähigkeit, das „Ungebildete zu bilden“ und ihre „große Bestimmtheit“, die Hölderlin darin den griechischen Schrift-stellern zuschreibt, entsprechen einer Formstrenge, einem Willen zur Gestaltung, zur Plastizität, die als Antwort auf die in das Unbegrenzte ausschweifende „Geistesfülle“ erforderlich ist, um von dieser „Geistes-fülle“ nicht gefährdet zu werden und sich vor ihr in das noch Ertragbare retten zu können. Die Bestimmtheit, die Form und die feste Regel, derer sich die Griechen bedienen, erscheinen als Notbehelf, mit dem sie sich vor ihrer angeborenen, ihr Wesen gefährdenden Geistesfülle in Sicherheit bringen.
In einem späteren Brief an Wilmans verwendet Hölderlin die Metapher des ‚Feuers vom Himmel‘, und in den Anmerkungen zu seiner Übersetzung der Tragödien des Sophokles erscheint die Vorstellung vom ‚Elementaren‘, das gebändigt werden muß, damit das individuelle Leben nicht tragisch untergehe. Dieser ins „Ungebundene“ strebende griechische Trieb kennzeichnet genau das, was Hölderlin in seiner langen Auseinandersetzung mit der griechischen Literatur zu entdecken glaubte. In der 1. Fassung der wohl noch im Jahre 1800 entstandenen Ode ‘Stimme des Volkes’ (StA II, 49 f.) erscheint der ins Ungebundene führende Drang auf das Rauschen der Ströme bezogen. Im weiteren Verlauf der Arbeit soll die Analogie zwischen dem dio-nysischen Rausch und dem Wesen der Ströme, die Hölderlins Spätwerk wie ein roter Faden durchzieht, näher erörtert werden. Die „Todeslust“, die die Völker und Städte ergreift und das „wunderbare Sehnen dem Abgrund zu“ (StA II, 49, v. 17), verweisen ebenfalls auf die Gefährdung durch das ‚Elementare‘, das in Hölderlins Dichtung öfters den Strömen (‘Der Rhein’) eingeschrieben ist.
Das entgrenzend-zerstörerische Schicksal, das in dieser Ode und in ‘Lebensalter’ den Untergang der Städte durch das Feuer verkörpert, muß auch in solchem Zusammenhang verstanden werden. In dem Gedicht ‘Lebensalter’ (StA II, 115) wird das flammende Übermaß des Griechisch-Orientalischen mit dem Brand bestraft: die Überschreitung der „Gränze“, die ‚nefas‘, derer sich die griechischen Städte schuldig machten – „Dieweil ihr über die Gränze / Der Othmenden seid gegangen“ (StA II, 115, v. 6 f.) – zieht den Zorn „der Himmlischen“ an, die die „Städte des Euphrats“ und die „Gassen von Palmyra“ in Feuer verschwinden lassen.
In der 1803 entstandenen Hymne ‘Mnemosyne’ (StA II, 197 f.) wird die Göttin der Erinnerung als eine die Existenz sichernde Kraft heraufbeschworen, die, gegen die Tendenz des „Ungebundenen“ gerichtet, den zerstörerisch entgrenzenden Drang bändigen soll (v. 11); mittels der Erinnerung soll das Bestehende beibehalten werden, auch wenn „Noth die Treue“ ist, denn „[…] immer / Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht“ (v. 12 f.). Das tragisch-entgrenzende Pathos ist jedoch nicht zu bändigen, so daß der göttliche Zorn die Stadt der Mnemosyne-Elevtherä durch Feuer vernichten läßt:
Himmlische nemlich sind
Unwillig, wenn einer nicht die Seele schonend sich Zusammengenommen.
(StA II, 198, v. 48-50)
II
„Heiliges Pathos“ und „Junonische Nüchternheit“
Zur regulativen Funktion der
griechischen Kunst
Vom entgrenzenden Pathos, in dem Hölderlin die orientalische Archaik der Antike begreift, ist auch im Brief an seinen Freund Casimir Ulrich Böhlendorff (Nr. 236, 4.12.1801, StA VI, 425-428) die Rede. Wenn Hölderlin in dem Aufsatz ‘Der Gesichtspunct aus dem wir das Altertum anzusehen haben’ (StA IV, 221 f.) noch keinen typologischen Unterschied zwischen Antike und Moderne sieht, weil die zwei entgegengesetzten Triebe einem „gemeinschaftlichen ursprünglichen Grunde“2 angehören, so kommt er in dem erwähnten Brief zu der Erkenntnis, daß antike und moderne Kunst verschiedenen Ursprungs sind, und die Anerkennung dieses Unterschieds führt ihn dazu, die abendländische Kultur von der Nachahmung der Antike, die ihr Winckelmann als Pflicht aufgebürdet hatte, zu befreien. Schon früher, in dem Aufsatz ‘Der Gesichtspunct…’, bricht Hölderlin mit der Vorstellung der Nachahmung antiker Kunst, indem er diese nicht mehr als ‚Natur‘ betrachtet, sondern als ‚Kunst‘ und so die Frage nach ihrer Herkunft stellt.3 Das Altertum und die moderne Kunst gehören zwar einem „gemeinschaftlichen ursprünglichen Grunde“ an – ein Gedanke der im Böhlendorff-Brief wieder aufgenommen wird:
Ich habe lange daran laborirt und weiß nun daß außer dem, was bei den Griechen und uns das höchste seyn muß, nemlich dem lebendigen Verhältniß und Geschik, wir nicht wohl etwas gleich mit ihnen haben dürfen. (StA VI, 426) –
aber dieser Grund bezieht sich nicht auf den Ursprung der Antike und der Moderne, denn das „lebendige Verhältnis“ und das „Geschik“ sind, wie Szondi und Hof4 belegen, poetologische Kategorien, welche auf die hier von Hölderlin entworfene These vom Wechsel der Töne verweisen:
Das Geschik, von dem das Werk sowohl des hesperischen wie des griechischen Künstlers zu zeugen hat, wäre das Geschick seiner Hände, seine Fähigkeit, die Töne zu ordnen und so dem Gedicht ein lebendiges Verhältniß zu geben, nämlich ein Leben, das im Verhältnis der Töne zueinander besteht.5
Das „lebendige Verhältnis“ und das „Geschik“ als gemeinsame Grundlage des Griechischen und des Hesperischen stellen einzig und allein einen dialektischen Wechselbezug von ‚Grund‘ und ‚Ausdruck‘6 dar, Begriffe, die Hölderlins transzendentale Poetologie untermauern. Man kann nicht behaupten, daß das Hesperische sich mit dem Griechischen in einer gemeinsamen Mitte der Bildungstriebe treffe, vielmehr liegt das Gemeinsame in der inneren Dynamik, in dem Ordnen der Töne.
Wenn also ein ‚gemeinschaftlicher Ursprung‘ von Antike und Moderne als solcher ausgeschlossen wird, so drängt sich nun die Frage auf, worin der Unterschied liegt. Die gesamte Überlegung geht davon aus, daß Antike und Moderne in ihrer Anlage – Hölderlin gebraucht den Begriff des Nationellen, des ‚Eigenen‘, und versteht darunter das ‚Angeborene‘ – einander entgegengesetzt sind. Und gerade dieses ‚Nationelle‘ lernt man am schwersten frei zu gebrauchen: „[…] der freie Gebrauch des Eigenen [ist] das schwerste.“ (StA VI, 426) Zunächst ist herauszuarbeiten, worin für Hölderlin das jeweils Eigene und Angeborene bei den Griechen und bei den Deutschen besteht.
Das ‚Nationelle‘ verkörpert jeweils ein Extrem: den Griechen ist das „Pathos“, „das Feuer vom Himmel“ angeboren, den Deutschen aber die rationale Nüchternheit: „Der blose Verstand, die blose Vernunft sind immer die Könige des Nordens“, heißt es im sog. ‚Athener-Brief‘ des ‘Hyperion’ (StA III, 83; I, 147, Z. 16 f.) Die im Brief an Böhlendorff wiederaufgenommene ‚Klimalehre‘, nach der die Anlage einer Kultur durch das Klima bestimmt wird, entnimmt Hölderlin einer Tradition, die sich im 18. Jahrhundert vor allem bei Montesquieu (‘Über den Geist der Gesetze’) ausgebildet hat. Herders ‘Ideen zur Philosophie der Geschichte der Mensch-heit’, Winckelmanns ‘Geschichte der Kunst des Altertums’ und Rousseaus Schriften sind die wichtigsten Quellen, auf die Hölderlin in der Entwicklung seiner These von der Dichotomie der Kulturen zurückgreift.
Das jeweils Angeborene in den beiden Kulturen muß aber, um eine Selbstgefährdung durch das Verharren in der extremen Anlage zu vermeiden, ausgeschlossen werden. Im Falle der Griechen würde die Leidenschaft, das „Pathos“, zur Hybris entarten und zur Selbstzerstörung führen, während die hesperische „blose Vernunft“ Erstarrung und Schicksal-slosigkeit hervorriefe: in der Hymne ‘Die Wanderung’ werden die Deutschen als „allzugeduldig“ beschrieben und in der Hymne ‘Der Ister’ wird der Strom auch aufgrund seiner Geduld und – implizit – seiner Schicksalslosigkeit apostrophiert.
Indem das ‚Nationelle‘ zugunsten des jeweils anderen Extrems, das durch Aneignung im Lernen erworben werden muß zunächst zurückgenommen wird, wird es „im Fortschritt der Bildung immer der geringere Vorzug werden“. (StA VI, 426) Darum sind die Griechen weniger „Meister des heiligen Pathos“, sondern haben sich – mit Homer – die „abendländische Junonische Nüchternheit“ für das von der Entgrenzung gefährdete griechische „Apollons-reich“ erbeutet. Das Hesperische andererseits muß, um Kultur zu werden, das ‚Fremde‘, die Leidenschaft der Griechen, als Inspiration hinzuerwerben, um die Verknöcherung und die „Knechtschaft“ abzuwehren, die von „bloser Vernunft“ und „blosem Verstand“ als Inbegriff hesperischer Nüchternheit verursacht werden. „Aber das eigene muß so gut gelernt seyn, wie das Fremde“ heißt es im Brief an Böhlendorff weiter, denn nur auf dem Weg über die andere Kultur, die als Regulativ zur eigenen erscheint, wird man „zum freie[n] Gebrauch des Eigenen“ gelangen, um in dieser Wendung auf dem Weg zurück die eigene Naturanlage erkennen zu können. Mit Hilfe des entgegengesetzten Bildungstriebes als Regulativ gelingt es jeder Kultur, ihre ursprüngliche Naturanlage als ‚Kunst‘ in die Sphäre des Bewußtseins zu heben. Vollzöge man diesen Prozess jedoch nicht, würde jene eigene Anlage unbewußt bleiben. Der Erwerb des Fremden stellt damit die notwendige Durchgangsstufe dar, einen unentbehrlichen ‚Umweg‘ zum Ziel der Selbstvergewis-serung. Die Klarheit der Darstellung, in der die Griechen unübertrefflich sind, ist eine ‚erworbene‘ Eigenschaft, die der Hesperischen weit überlegen ist, weil jene als eine Angeborene verstanden wird.
III
„Der Höchste, der ist’s, dem wir geeignet sind“
die Aufgabe der Dichtung und der Übersetzung
Inwiefern ist der ‚Böhlendorff-Brief‘ und die darin entworfene These für das Verständnis der Dichtung Hölderlins von Bedeutung?
Hölderlin bemüht sich zwar um ein adäquates Verständnis der Griechen, jedoch nur unter dem Gesichtspunkt eines richtigen Verständnisses deutscher Gegenwart und im besonderen seiner Aufgabe als Dichter der Zeit. Es geht ihm mit seinen Überlegungen nicht so sehr darum, eine theoretische Wesensbestimmung des Griechischen und des Hesperischen zu leisten, sondern vielmehr den praktischen Aspekt, der sich auf die eigene Dichtung bezieht, herauszustellen. Die Frage lautet nicht, was die hesperische und die griechische Art bzw. Kultur kennzeichne, sondern welchen Auftrag er als Dichter seiner Zeit vor dem Hintergrund der Erkenntnis zu erfüllen hat, daß die vaterländische Dichtung zwar der griechischen Kultur bedarf, jedoch nicht so weit gehen darf, um in deren Schatten durch Nachahmung, das eigene Wesen zu verkennen und preiszugeben. Der vaterländische Dichter sucht daher den Ausgleich zwischen der „Präzision“, der „Klarheit der Darstellung“ die seiner hesperischen Natur entspricht, mit der „Wärme“ der griechischen Ekstase, die er nicht einbüßen will. Der Übersetzer der sophokleischen Tragödien hat einen Kunstfehler zu berichtigen den Sophokles dadurch verursachte, daß er mit seiner notwendig erworbenen Bändigung des „Feuers vom Himmel“ das ‚Eigene‘ verleugnete. So schreibt Hölderlin im Brief an Wilmans:
Ich hoffe, die griechische Kunst, die uns fremd ist, durch Nationalkonvenienz und Fehler, mit denen sie sich immer herum beholfen hat, dadurch lebendiger, als gewöhnlich dem Publikum darzustellen, daß ich das Orientalische, das sie verläugnet hat, mehr heraushebe, und ihren Kunstfehler, wo er vorkommt, verbessere. (Nr. 241, 28.9.1803, StA VI, 434)
Das Orientalische, das die Griechen – und damit sind vor allem Homer und Sophokles gemeint – nach Hölderlins Sicht verleugnet haben, um sich vor dem angeborenen Pathos durch die abendländische „junonische Nüchternheit“ in Schutz zu nehmen, versucht er in seinen Übersetzungen der sophokleischen Tragödien wieder zum tragenden Element werden zu lassen. So versteht er seine Aufgabe als Übersetzer, die auch auf die Dichtung immer wieder durchschlägt – denn Übersetzungspraxis soll dem dichterischen Schaffen dienen – nicht nur im Übertragen eines fremden Textes in die eigene Sprache: es gelte, das Original mittels der Übersetzung in einen Vollendungszustand zu bringen. Die Tragödien des Sophokles7, die Hölderlin übersetzte und 1804 bei Friedrich Wilmans veröffentlichen ließ (der 1. Band enthält die Tragödie ‘Oedipus der Tyrann’, der 2. Band die ‘Antigonä’ – der Titel legt nahe, daß Hölderlin beabsichtigte auch den ‘Oedipus auf Kolonos’ und den ‘Aias’ zu übersetzen, von denen nur kurze Partien erhalten geblieben sind), haben im griechischen Original den angestrebten Vollendungszustand wegen Sophokles’ Kunstfehler: seinem Verleugnen des Orientalischen zugunsten der Erziehung und Selbstzucht, nicht mehr erreicht, während Hölderlins Übersetzung die Texte zu solcher Vollendung führen will, indem sie das Orientalische hervorhebt. In der Übersetzungspraxis kommt der künstlerische Gestaltungswille vor allem in den Chorliedern zur Geltung, indem der Ausdruckswert der griechischen Wörter intensiviert und somit die „exzentrische Begeisterung“ pointiert wird. Wenn Hölderlin die Wahl zwischen zwei Übersetzungen eines Wortes hat, wählt er das Stärkere: so erklärt sich auch die häufige Verwendung von Ausdrücken etwa wie „Wahnsinn“, „Abgrund“ und „Zorn“.8
An den Herausgeber seiner‚ Sophokles-Übersetzungen‘, Wilmans, schreibt er:
Ich glaube durchaus gegen die exzentrische Begeisterung geschrieben zu haben und so die griechische Einfalt erreicht; ich hoffe auch ferner, auf diesem Prinzipium zu bleiben, auch wenn ich das, was dem Dichter verboten ist, kühner exponiren sollte, gegen die exzentrische Begeisterung. (Nr.245, 2.4.1804, StA VI, 438 f.)
Mit dem ‚Schreiben‘ bezieht sich Hölderlin auf die Übersetzungsarbeit an den griechischen Tragödien, wobei sich das Übersetzen von seinem Dichten nicht wesentlich unterscheidet, da die eigene Sprache sich der Art und Modulation der Griechischen auf diese Weise auch annähert. Hölderlin geht es hier primär nicht darum, die eigene Sprache dem sophokleischen Original anzugleichen und auch nicht darum, den griechischen Text angemessen in die deutsche Sprache zu übertragen, sondern durch das „kühne“ Exponieren dem Original das Orientalische wiederzugewinnen. Mit der „griechische[n] Einfalt“ ist hier das Apollinische gemeint, die Begeisterung, der wir bereits im Böhlendorff-Brief begegneten. Aber indem Hölderlin „gegen die exzentrische Begeisterung“ schreibt, d.h. in eine Richtung auf diese zu, wie Friedrich Beißner belegt hat, gewinnt er auch für die eigene Sprache eine neue Dimension: er versetzt sie in den Ursprung der griechischen Anlage, er setzt sie mit dem ‚Fremden‘, dem ‚Anderen‘, auseinander.
Auf der einen Seite orientalisiert er Sophokles, da dieser, um die „Klarheit der Darstellung“ zu erreichen, „die junonische Nüchternheit für sich zu erbeuten“, auf halbem Wege geblieben ist und die Rückkehr zur eigenen Anlage versäumt hat. Andererseits orientalisiert er die deutsche Sprache und damit die „tote Ordnung“ als den Deutschen eigentümliche starre Konvention, ihren „eigenen Schlag“, was gleichsam nur eine unvollendete Aufgabe ist, da das Orientalische nicht die Substanz der deutschen Eigenart darstellt, sondern nur die Fremde, wodurch sie zu sich selber fin-den und zu sich selbst zurückgebogen werden muß, um nicht wie der Wanderer „einsam“ unter dem reißenden „Feuer des Olymp“ zu verschmachten, oder – wie in den ‘Anmerkungen zur Antigonä’ angedeutet wird – dem Zeitgeist ausgeliefert zu werden, der wild und „schonungslos“ die Menschen in die Totenwelt reißt.
Solchen antithetischen Diskussionen über die Vorstellung der Hellas-Hesperien-Problematik begegnen wir auch in den ‘Anmerkungen zur Antigonä’ im 3. Teil der Abhandlung, der sich dem Problem der dramatischen Darstellung des Tragischen zuwendet. (StA V, 269-272)
Die transzendentale Poetik Hölderlins, die in der Forschung von Bothe in seiner Einführung zu Hölderlin auch als „Poetik des Geistes“ bezeichnet wurde, versteht unter dem Begriff des Tragischen die Umsetzung einer elementaraorgischen Erfahrung, in welcher Mensch und Gott aufeinandertreffen und der Mensch vom Göttlichen überwältigt wird. Der Gott ist gegenwärtig „in der Gestalt des Todes“, im tragischen Untergang des Einzelnen, denn die Zeit, die sich in der Mitte wendet, läßt eine Art ‚Lücke‘ im Weltlauf entstehen. In dem Moment des Umschlages in der Mitte der Zeit wird der Mensch dem „Undankbaren“ ausgesetzt. Um sich vor einer „gänzlichen Umkehr“, die jeden Halt auflöst, zu schützen, muß der Mensch seinem Bewußtsein treu bleiben und im Vorgegebenen, im „Vaterländischen“, eine Verwurzelung finden.
Antigone erlebt diesen Zustand der Entwurzelung, indem sie die von Kreon eingeführten „positiven“ Gesetze bricht und sich auf „ihren“ Zeus und die „Todesgötter“ beruft. Dieses Moment einer Entgrenzung bezieht sich nicht nur auf den Einzelnen, sondern der „reißende Zeitgeist“, der Antigone ergreift, macht aus ihr ein Medium historischer Umbruchssituation, ähnlich wie es im Aufsatzfragment ‘Die Bedeutung der Tragödien’ angekündigt ist:
Eigentlich nemlich kann das Ursprüngliche nur in seiner Schwäche erscheinen, insofern aber das Zeichen an sich selbst als unbedeutend = 0 gesezt wird, kann auch das Ursprüngliche, der verborgene Grund jeder Natur sich darstellen. (StA IV, 274)
Das Ursprüngliche, der verborgene Grund, kann mit dem Aorgischen in den ‘Empedokles’-Aufsätzen identifiziert werden, das in seiner vermittelten Daseinsform, in der Erscheinungswelt nicht rein sondern nur in seiner Schwäche erscheint. Erst wenn das „Zeichen“, das Erscheinungshafte in dessen Unwesentlichkeit anerkannt wird und als solches als „unbedeutend = 0 gesezt wird“, ist der Grund „gerade heraus“, was Hölderlin schließlich als tragisch bezeichnet, da das Durchbrechen des Elementaren, des Grundes, den einzelnen untergehen läßt.9 Das „Unmittelbare“ des tragischen Geschehens wird in den ‘Anmerkungen zur Antigonä’ mehrfach spezifiziert: zum einen ist es „der reißende Zeitgeist“, der in seiner historischen Gesetzlichkeit aufgefaßt werden kann, zum anderen nennt Hölderlin hier neben der Wende der Zeit und der notwendigen „Untreue“ Antigones als ein konstantes Moment in der Tragödie die Art, „wie es vom griechischen zum hesperischen gehet“ und meint damit die „in jedem tragischen Geschehen angelegte Entwicklung vom Griechischen zum Hesperischen, die im ‘Oedipus’ noch unter griechischem Vorzeichen steht und erst in der ‘Antigonä’ erkennbare hesperische Züge trägt.“10
Den ‘Oedipus’ versteht Hölderlin als eine durch die Vermessenheit des Einzelnen hervorgerufene Tragödie. Die Vermessenheit besteht in der Überschreitung einer Grenze während des Versuchs, das Geheimnis seines Ursprungs zu ergründen, ohne zu berücksichtigen, daß diese Erkenntnis sein Bewußtsein – als eine dem Menschen in seiner Endlichkeit gesetzte Grenze – übersteigen könnte. Nach Hölderlins Sicht hat Oedipus „eim Auge zuviel vielleicht“, was an der Wende der Zeit zum Untergang führen muß und durch den endgültigen Verlust seines Augenlichts bestraft wird. In dem „geisteskranke[n] Fragen nach einem Bewußtseyn“ sieht Hölderlin Ödipus’ Hybris, so daß die Gewalt des Gottes „in der Gestalt des Todes“ – darunter versteht Hölderlin die Gewalt des „Feuers vom Himmel“ – seinen Körper ergreift.
In Hölderlins ‘Anmerkungen zur Antigonä’ gewinnt der Ausgang der Handlung eine dem ‘Oedipus’ entgegengesetzte Dimension: Kreon wird am Ende von seinen Knechten fast mißhandelt, was einen Übergang zu einer politischen – „und zwar republikanischen“ – Vernunftform verspricht: in Antigones Verhalten zeichnet sich als Folge die Betonung eines eigenen Rechts ab, Züge, die eher dem Hesperischen zugeordnet werden können. Durch ihren Widerstand gegenüber Kreon gewinnt das Handeln an Selbständigkeit, die in der Freiheit des Subjektes gründet.11
1 Im ‘Fragment von Hyperion’ unterscheidet Hölderlin zwischen einem Zustand der höchsten Einfalt, der einer „bloßen Organisation der Natur“ entspricht und der unseres Zutuns nicht bedarf, und einem „Zustand der höchsten Bildung“, in dem die ursprüngliche Einfalt auf dem Weg der „höchsten Bildung“ und einer vom Menschen bewußt gesteuerten Organisation der Kräfte wiedergewonnen wird. (Vgl. StA III, 163)
2 Friedrich Beißner, Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen, Stuttgart, 1961.
3 Vgl. Peter Szondi, Überwindung des Klassizismus. Der Brief an Böhlendorff vom 4. Dezember 1801. In: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, Frankfurt a. M. 1967, 87-104, hier 87.
4 Vgl. Walter Hof, Zur Frage einer späten ‘Wendung’ oder ‘Umkehr’ Hölderlins. In: HJb 11, 1958/60, 120-159.
5 Vgl. Szondi [wie Anm. 3], 103 f.
6 Vgl. Lawrence Ryan, Hölderlins Antigone: „Wie es vom griechischen zum hesperischen gehet“. In: Jenseits des Idealismus. Hölderlins letzte Homburger Jahre (1804-1806), hrsg. von Christoph Jamme und Otto Pöggeler, Bonn 1988, 103-121, hier 104-108.
7 Vgl. Wolfgang Binder, Hölderlin und Sophokles. In: Friedrich Hölderlin. Studien von Wolfgang Binder, hrsg. von Elisabeth Binder und Klaus Weimar, Frankfurt a. M. 1987, 178-200, hier 181.
8 Ebd., 182.
9 Vgl. Helmut Bachmaier, Theoretische Aporie und tragische Negativität. Zur Genesis der tragischen Reflexion bei Hölderlin. In: Hölderlin. Transzendentale Reflexion der Poesie, Stuttgart 1979, 83-145.
10 Ryan [wie Anm. 5], 111.
11 Binder [wie Anm. 7], 196 f.