Mihaela Rogozan
Universitatea Babeş-Bolyai”, Cluj-Napoca, Romania
miharogozan@yahoo.com
Spuren der Grenze in Herta Müllers Diskurs des Alleinseins
Abstract: This paper is an account of Herta Müller’s experience during the time of communist regime in Romania. The writer documented that experience in her essays and reiterates it as a central theme in the novels she wrote. For Herta Müller the term ”boundary” is not a simple word with a geographical meaning, but conotates the crippling effects of the communist dictatorship which are transffered in an aesthetic way of expression as in the foreign look and the discourse of loneliness. Herta Müller also passes across the boundary which separates the real dictator and the literary figure by using a striking metaphor: the king. Another instance of the boundary is occasioned by the writer’s own political situation, namely her statute of Heimatlosigkeit (homelessness). Finally, living between two languages (Romanian and German), Herta Müller confronted another boundary, a linguistic one, which encompasses her entire literary work.
Keywords: Romanian Literature; Nobel Prize; Herta Müller; Communist Dictatorship; Boundaries; Homeland; Interculturality.
Herta Müller kommt aus einem Land, wo „jeder für sich […] eine Insel und das ganze Land noch einmal – ein nach außen abgeschottetes, nach innen überwachtes Gelände“[1] war. Sie hat 1987 die physische Grenze der von der Diktatur gezeichneten Insel überschritten und sich in die Freiheit begeben, jedoch trägt sie seitdem die Erfahrung der Grenze als Bewusstseinszustand in ihrem Inneren. Die Autorin behandelt die Grenzerfahrung in ihrem ganzen Werk, indem sie das Thema der Diktatur und des Kommunismus sowohl literarisch in Romanen, Erzählungen und Collagen aufgreift und davon in Interviews, Vorträgen, Zeitungsartikeln und Essays Zeugnis ablegt.
Die Autorin kann die Grenze im geographischen Sinn nicht annehmen, den einzigen Sinn, den der Westeuropäer, der in der „Freiheit des Kopfes und die Freiheit der Füße“[2] aufgewachsen ist, kennt. Die Freiheit ist für diesen selbstverständlich, er wurde weder durch äußerliche noch durch innere Grenzen beschränkt. Herta Müller kann Ausdrücke aus der westlichen Werbung wie Inselglück oder reif für die Insel nicht verstehen[3], denn sie kann das Glück unmöglich mit einem abgegrenzten Ort verbinden. Sie assoziiert die Inselvorstellung mit dem isolierten Land, wo die Überschreitung der Grenze den Tod bedeutet: „Ich kannte bis zu meiner Ausreise nur Grenzen mit schießenden Soldaten und aufs Menschenzerfleischen dressierten Hunden. Täglich endeten Fluchtversuche mit dem Tod. Viele Tode blieben in den Feldern des Grenzgebiets liegen, dem Frost und der Hitze überlassen. Bei der Ernte fanden die Bauern Gerippe und Kleiderreste im Weizen“[4]. Der Inselzustand kennzeichnet nicht nur das Land, sondern auch seine Einwohner: „Jeder ist gezwungen, eine Insel zu sein. Das Mißtrauen ist immer und überall ein Grundgefühl. […] Man darf sich mit dem Verbotenen, von dem jeder weiß, daß man es denkt, nicht erwischen lassen“[5].
Die Konfrontationen mit den unterdrückenden Strukturen der Diktatur werden in den Essays beschrieben, vor allem in Der König verneigt sich und tötet, aber auch in einem Zeitungsartikel, der am 23. Juli 2009 in der deutschen Zeitung Die Zeit erschienen ist, nachdem die Autorin ihr Securitate-Dossier endlich eingesehen hat. Die konkreten Handlungen der Securitate waren: Der Versuch, Herta Müller als Agentin zu gewinnen, die Wohnungsuntersuchungen, die als Diebstähle inszeniert wurden, die ständige Verfolgung, die Verhöre, der Versuch Herta Müller in Verruf zu bringen, indem man das Gerede verbreitete, sie sei eine Mitarbeiterin des kommunistischen Regimes, die Entlassung vom Arbeitsplatz, die Zensur und – als Höhepunkt – die Todesdrohungen.
Herta Müller verteidigt sich gegen solche Einbrüche der Macht in das Privatleben durch die einzigen Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen: Durch ihre eigene Stimme und durch ihre Texte, die von Anfang an Aufmerksamkeit erregen, zunächst in Deutschland, wohin sie 1987 emigrierte, dann nach dem Erhalt des Nobelpreises und nach mehr als zwanzig Jahren Beharren auf dem gleichen Thema der Diktatur, in der ganzen Welt.
Dass die Stimme der Schriftstellerin so gut gehört wurde ist aber der ästhetischen Qualität ihrer Schriften, der poetischen Sprache zu verdanken, die Herta Müller benutzt, um ein individuelles Trauma zum Ausdruck zu bringen. Sie schreibt keine didaktischen Bücher über die Diktatur, sie schafft, von diesem Thema ausgehend, sprachliche Kunstwerke. In einer Zeit, wo „wir mit Todesdrohungen lebten und unsere Tage als staatlich bemessen zu betrachten hatten“[6], hat Herta Müller unter zahlreichen Missbräuchen gelitten oder hat viele Missbräuche der Vertreter des kommunistischen Systems gesehen. Diese Erfahrungen hatten eine unwiderrufliche Beschädigung ihres Bewusstseins als Folge: „Erst dann wußte ich, daß alle Nerven von einem zu tiefen Einbruch für immer überfordert bleiben“[7]. Der Erinnerungsstrom ist für immer von einem Riss geprägt. Er „verändert nicht nur die Dinge danach, auch vorherige, […] alles wird von dieser Schneise magnetisiert, im ganzen Kopf und im ganzen Leben ist nichts mehr von ihr zu trennen“[8]. Der Riss widerspiegelt sich für immer im Gesicht des Opfers. Die rumänischen Gegenden haben (auch auf dem literarischen) Gesicht der Autorin ihren Abdruck hinterlassen. Ausgehend von einem Zitat von Herbert Achternbusch, gestaltet sie ein Portrait des politischen Emigranten: „Diese Gegend hat mich kaputt gemacht. Ich werde sie nicht verlassen, bis man es Mir ansieht“, dem die Autorin später einfügt: „Was man aus der Gegend hinaus trägt, trägt man hinein ins Gesicht“[9].
Der Blick der Schriftstellerin bleibt für immer gekennzeichnet, auch wenn sie physisch in einen Raum der Freiheit gelangt ist. Im Essay Der fremde Blick führt die Autorin ein eigenes Collagen-Gedicht an, um anhand dieses Beispiels zu deuten, wie die deutschen Literaturkritiker sich geirrt haben, als sie es interpretiert haben. Sie haben darin nur den fremden Blick gesehen, und haben ihn anhand von zwei Gründen rechtfertigt: entweder dadurch, dass die Autorin aus einem fremden Land stammt, oder als literarische Technik. Aber der fremde Blick ist nicht der Emigration zu verdanken, die Autorin hatte ihn schon in Rumänien, so wie sie erklärte, wo ihr alle Dinge bekannt waren. Der fremde Blick ist mit dem Alltag in der Diktatur in Verbindung zu setzen. Er entstand infolge einiger Geschehnisse, die die Dinge verändert hatten und sie mit dem Druck der Drohung und der Angst behaftet haben. So wurde zum Beispiel das Appartement der Schriftstellerin in ihrer Abwesenheit von Securitate-Agenten „besucht“, die den gewöhnlichen Platz irgendeines Gegenstandes aus der Wohnung veränderten, um hinter sich Spuren zu lassen und um den Privatraum mit dem Schatten der Unsicherheit zu belasten. Nachdem die Autorin ein Fahrrad gekauft hatte, sagte ihr der Agent beim Verhör: „auf der Welt gibt es auch Verkehrsunfälle“. In dem Augenblick „bleibt das Fahrrad nicht lange ein Fahrrad“ und „Die Einheit der Dinge mit sich selbst hatte ein Verfallsdatum“[10]. Die Gegenstände, die von der Securitate benutzt wurden, um das Individuum einzuschüchtern, verändern ihre denotative Funktion und gewinnen hingegen eine konnotative Funktion. Allmählich werden alle Gegenstände aus der Umgebung verdächtig und verlieren damit ihre Selbstverständlichkeit: „Er [der Blick] kommt aus den vertrauten Dingen, deren Selbstverständlichkeit einem genommen wird. Niemand will Selbstverständlichkeit hergeben, jeder ist auf Dinge angewiesen, die einem gefügig bleiben und ihre Natur nicht verlassen. Dinge, mir denen man hantieren kann, ohne sich darin zu spiegeln. Wo die Spiegelung beginnt, finden nur noch abstürzende Vorgänge statt, man blickt aus jeder kleinen Geste in die Tiefe“[11]. Die Terrorisierung durch Verhöre, Hausdurchsuchungen und Todesdrohungen zeugt Angst und Verdacht. Die Angst ist am Anfang konkret, dann aber wird sie ins Bewusstsein extrapoliert und erlangt zur Unbestimmbarkeit. „In totalitären Staaten ist das Land unterm Staat nicht mehr sichtbar. Was wächst, oder rauscht, oder blüht, hat ein Auge. Auch was steht, liegt hat ein Auge. Auch der Gehsteig, die Tür, das Abteil im Zug. Auch die Wolken. Alles ist bewacht. […] Wenn die Bewachung nicht wirklich ist, ist sie in der Vorstellung. Unwirklich wird sie nie“[12]. Martin Heidegger erklärt in Was ist die Metaphysik, dass dieses Befinden der unbestimmten Angst das Nichts offenbare. An die Grenze zum Nichts und zum Tod gelangt die Autorin des Öfteren in ihren Schriften, das ist der Abgrund, mit dem sie sich jeden Tag ihres Lebens konfrontieren muss und der sie sagen lässt: „Heute wär ich mich lieber nicht begegnet“, laut des Titels eines Romans.
An der Grenze zum Nichts entstehen auch eine ganze Reihe von Assoziationen, die ungewöhnlich und willkürlich scheinen, die aber die Poetik der Autorin kennzeichnen: zwischen dem Frosch und dem Deutschtum, zwischen dem Tier und dem Herz, zwischen dem König und dem Diktator, zwischen Gurken und kommunistischen Kunstwerken. Die Angst befördert Herta Müller an die Schwelle zum Nichts, sie richtet ihre Wahrnehmung auf Dinge, die mit dem, was ihr der Angstzustand verursacht hat, keine Verbindung haben. Die Kontemplation des Nichts hat als Folge, dass die Logik aufgelöst wird, dass die Assoziationen irrational werden. So rufen die Enten vom Fluss Lahn in Marburg in Herta Müllers Wahrnehmung das goldene Besteck des Diktators aus dem verlassenen Land hervor. Sie unternimmt einen reflexiven Akt und legt die Diagnose fest: „Ist das Beschädigung, wenn an intaktem Ort, tausend Kilometer vom Elend entfernt, der verabscheute Herrscher einem sein Gold buchstäblich in die Eingeweide drücken kann“[13].
Die Angst wird im Roman Herztier organisch durch ein Tier symbolisiert, das nirgendwo mehr in der Welt des Seins ein Versteck findet, so dass es erschreckt zum Nichts überläuft: „Unsere Herztiere flohen wie Mäuse, Sie warfen das Fell hinter sich ab und verschwanden im Nichts“[14]. Die Angst erzeugt im Individuum einen thanatischen Trieb, doch „Emil M. Cioran schreibt, die Augenblicke der grundlosen Angst kämen der Existenz am nächsten“[15]. Die Dialektik vom Leben und Tod tritt jedes Mal in den Vordergrund, wenn durch Todesdrohungen behauptet wird, dass das Individuum wertlos und bedeutungslos sei. Eben weil ihre Existenz und ihr Wert bezweifelt werden, entsteht in Herta Müllers Bewusstsein ein widerspenstiger Lebenssinn: „In dieser Zeit wurde die Kindheitsfrage «Was ist mein leben wert» obsolet. So eine Frage darf nur von innen kommen. Wenn man einem Staat nichts wert ist, wird man widerspenstig. Aus Trotz fängt man an, gerne zu leben. Durch Todesdrohungen wird man gezwungen, sein Leben zu lieben. Gerade jetzt will man leben. Und das ist mehr Lebenssinn, als man glaubt. Es ist geprüfter Lebenssinn“[16]. Das Weiterleben nach einer solchen Erfahrung bleibt beschädigt; Die Umgebung wird drohend, auch wenn der Grund der Angst nicht mehr anwesend ist: „Die Verfolgung ist nicht nur dann vorhanden, wenn man Rede und Antwort steht beim Verhör. Sie sitzt eingeschlichen in den Dingen und Tagen, die sich äußerlich nichts merken lassen. […] Der Verfolger muss nicht körperlich da sein, um zu bedrohen. Als Schatten sitzt er sowieso in den Dingen“[17]. Der Blick des von dem Terror Betroffenen wird zu einem verformten Blick, zu einem Zeichen der unwiderruflichen Mutilation und er fällt zwischen intakten Blicken auf[18]. Der fremde Blick diene der Drohung-, Terror- und Angstbeschreibung, behauptet Grazziella Predoiu[19]. Der fremde Blick wurde missverstanden, erklärt Herta Müller, aber er hat weder mit der Emigration, noch mit der Kunst zu tun: „Der fremde Blick hat mit dem Schreiben nichts zu tun, sondern mit der Biographie“[20]. Trotz dieser Erklärung ist Nikoletta Enzmann der Meinung, dass der fremde Blick dem Werk Herta Müllers eine Eigenart verleihe, die zu ihrer ästhetischen Qualität beiträgt[21].
Der totalitäre Staat hat wirkungsvolle Methoden, um die Schriftsteller zum Schweigen zu bringen, eine davon ist die Zensur. „Die andere erfundene Wahrnehmung ist, da sie sich nicht den Dienst der Macht stellt, gegen die Macht. […] Die Mächtigen haben auch keine Gefühle für die erfundene Wahrnehmung. […] Die Mächtigen haben einen Spürsinn für die Gefahr. Sie merken sehr rasch, was gefährlich sein könnte. Und sie reagieren sehr rasch. Sie reagieren durch Maßnahmen. Die Maßnahme gegen die Angst vor der erfundenen Wahrnehmung heißt: Zensur“[22]. Trotzdem gibt die Schriftstellerin den Diskurs nicht auf, sie betreibt ihn aber in Einsamkeit. Der Diskurs des Alleinseins war in der Kindheit eine Ersatzform, für den öffentlichen Widerstand. Sie hat ihn von der Großmutter erlernt, die sich selber nur in der Einsamkeit verteidigte, wenn sie in der von Männern bestimmten Gesellschaft des schwäbischen Dorfes ständig gedemütigt wurde: „wo Entwürdigung die Lebensweise ist, wird viel allein geredet“[23]. Nach vielen Jahren in der Diktatur wird der Diskurs des Alleinseins zum Text, das ist Herta Müllers Widerstand gegen das kommunistische Regime. Die Autorin findet in dem Diskurs des Alleinseins die ästhetische Stütze, um den erlebten Missbräuchen Widerstand zu leisten.
Der Diktator war eine allgegenwärtige Instanz: Überall im Land sah man sein Portrait und hörte man seine Stimme. Er wird von Herta Müller mit dem Pfarrer aus ihrer Kindheit verglichen, der den Dorfeinwohnern die Angst vor Gott beibringen wollte,. Ähnlich verbreiteten die Funktionäre ihre sozialistische Religion, die ganze Ideologie des Regimes wurde in dem Personenkult Ceauşescus gebündelt[24]. Der Diktator wird aber in der ästhetischen Erfindung der Schriftstellerin durch die Figur des Königs ersetzt, eine zentrale Metapher in den Essays. Was ist mit diesem König gemeint und warum „verneigt“ er sich, wenn er tötet? Herta Müller verweist damit auf die Figur des Schachkönigs, die sich von allen anderen Figuren des Schachspiels bedienen lässt. Er „verneigt sich“, wenn er tötet, weil die Schachfigur aus der Erinnerung der Autorin von dem Großvater im Krieg grob geschnitzt wurde und beim Spielen torkelte. Schon in der Kindheit, erklärt Herta Müller, habe sie den König getroffen: Jedes Mal wenn sie Angst hatte oder den Tod der Tiere aus dem Dorf ansehen oder verrichten musste. Die Träume nach einem solchen gewaltigen Erlebnis werden von halluzinierenden Bildern besetzt, in denen der König herrscht: „Ich schneide das Huhn auf und sein Bauch ist eine Schatulle voller Schachfiguren […] Ich hol die Schachfiguren aus dem Bauch und stell sie der Farbe nach in zwei Reihen. Es gibt nur einen König, er torkelt, verneigt sich. Er ist grün und wird, während er sich verneigt, rot. Ich halte ihn in der Hand und spür, wie sein Herz klopft. Er hat Angst und darum beiße ich hinein“[25]. Die Dinge beginnen einen König zu haben, der aus verschiedenen Stoffen besteht: „Der Holzkönig im Schachspiel, der Blechkönig im Wetterhahn, der Fleischkönig im Huhn“[26]. Die Könige aus den Dingen setzen ihre Diktatur durch Schock und Angst durch und diese Diktatur trägt zur seelischen Beschädigung der Beobachterin bei. Noch lange bevor sie den Staatsdiktator kannte, kennt sie seine Vertretungsformen in den Gegenständen. Später trifft sie den Staatskönig und stellt fest, dass dieser ein Tyrann ist, der sich nach eigenem Willen vom Leben der anderen bedient: „Er ist ein Staatskönig. Er schachert an der Schnittstelle von Leben und Sterben: wirft die ihm lästig Gewordenen heimlich aus Fenster, unter Züge oder Autos, von Flußbrücken, hängt sie an den Strick, vergiftet sie – inszeniert sein Töten als Selbstmord. Er läßt die Fliehenden an der Grenze von abgerichteten Bluthunden zerreißen […] Man weiß es, kann aber, was täglich geschieht, nie beweisen.“[27]. Herta Müller findet trotzdem ein Mittel, um gegen den König zu kämpfen. Sie setzt das Schreiben und die Reime gegen ihn ein, auch später, als der wirkliche Diktator sein Ende gefunden hat: „Es zeigte sich, daß man dem König durch Reime beikommen kann, Man kann ihn vorführen. Der Reim zwingt ihn zurück in die Herzklopftakte, die er verursacht“[28]. Mit dem König aus ihrem Bewusstsein muss aber die Schriftstellerin ein Leben lang kämpfen:
und der König verneigt sich ein wenig
und die Nacht kommt gewöhnlich zu Fuß
und vom Dach der Fabrik in den Fluß
leuchten zwei Schuh
verkehrt und so früh neonbleich
und der eine tritt uns das Maul zu
und der andere tritt uns die Rippen weich
am Morgen gelöscht die Schuhe aus Neon
und der Holzapfel launig der Ahorn errötet
die Sterne am Himmel fahren wie Popcorn
und der König verneigt sich und tötet[29]
Die Sprache ist auch ein Objekt der Verstümmelung, die Diktatur hält sie unter Kontrolle und nützt sie für das eigene Interesse aus. Die Sprache der kommunistischen Ideologie ist von Herta Müller als „Phrasendreschen“, als „tragisch-lächerliche Verzerrung der rumänischen Sprache“[30] gekennzeichnet worden. Die Sprache ist nur noch das Wiederkäuen der „gestanzten Fertigteile“, die gleichzeitig mit der Nachahmung der Gestik und Mimik des Diktators geschieht. Herta Haupt-Cucuiu analysiert die Sprache der kommunistischen Diskurse anhand der deutschen Propagandazeitung Der neue Weg. Ihre Schlussfolgerung ist, dass diese Sprache eine Handhabung des Denkens und der Haltung der Leser ist, die desto notwendiger ist, je mehr die Ideologie von der Realität entfernt ist[31]. Nikoletta Enzmann behauptet, dass Herta Müller nicht nur ideologisch, sondern auch stilistisch gegen das Regime kämpft: „Herta Müllers Schreiben ist damit auch ein Schreiben gegen den sorglosen Umgang mit Sprache und gegen eine Vereinnahmung der Sprache durch Ideologien bzw. ihre Benutzer. Einerseits zeigt sie, wie man unter dieser sprachlichen Sorglosigkeit leiden kann, und andererseits praktiziert sie die bewusste Verwendung von Sprache, indem sie alltägliches Sprechen in ungewohnte Kontexte stellt, ursprünglichen Wortbedeutungen nachgeht oder gewohnte Perspektiven und Bedeutungen verfremdet”[32]. Die Sprache kann ein Instrument der Macht sein, sie kann von der Diktatur missbraucht werden, aber die Sprache ist zugleich ein Widerstandsmittel, das die Selbstbestätigung und Selbstbehauptung vor der totalitären Macht ermöglicht.
Die Erfahrung einer Diktatur, die ihre Einwohner zwischen Grenzen wie in einem Gefängnis hält und sie ständig unterdrückt, hat für Herta Müller einen Entheimatungsprozess als Folge.
In einem Interview in der Süddeutsche Zeitung, gleich nach der Ankündigung des Nobelpreises, fragt Lothar Müller, ob Herta Müller sich verstanden gefühlt habe, als man von der „Landschaften der Heimatlosigkeit” gesprochen hat. Die Schriftstellerin ist damit einverstanden, und erklärt, dass es keine selbsverstädlichen Orte der Zugehörigkeit gäbe: „Meine Landsleute haben mich ausgeschlossen, schon exkommuniziert nach dem Buch Niederungen in den frühen achtziger Jahren und dann kam das ganze Gezerre mit dem Geheimdienst und der Diktatur. Dann kam ich hier an, und ich bin natürlich nicht in eine Heimat gekommen. Ich lebe hier, aber hier bin ich nicht zu Hause, weil ich nicht von hier komme – und dort war ich nicht zu Hause, […] weil ich nicht dazugehörte”[33].
Herta Müller hat kein sentimentales Verhältnis zur Heimat: „Als ich aus Rumänien wegging, habe ich dieses Weggehen als «Ortswechsel» bezeichnet. Ich habe mich gegen alle emotionalen Worte gewehrt. Ich habe die Begriffe «Heimat» und «Heimweh» nie für mich in Anspruch genommen“[34]. Obwohl ihre Schriften Themen aus der jüngsten Vergangenheit Rumäniens behandeln, hat die Wahl dieser Themen keine patriotischen Gründe: „Da ich aus keinerlei, wie auch immer geartetem Lokalpatriotismus oder Zugehörigkeitsgefühl heraus über Rumänien schreibe, schreibe ich über keine Heimat und an keinem Stück kollektiv zusammengetragener Geschichte. Ich schreibe, wenn ich vor dem Blatt sitze, über einen Zustand und seine Folgen, die ich spüre, wenn ich mir begegne“[35].
Man könnte aber Herta Müller eine gewisse Art von Zugehörigkeit zu Rumänien zuschreiben. Wenn es nicht zu gewagt ist, würden wir ihr eine subtile und implizite Patriotismusform zuschreiben, die wir als linguistisch und kulturell bezeichnen. Die Schriftstellerin hat oft die Sinnlichkeit und Expressivität der rumänischen Sprache und die Schönheit ihrer Sprachbilder hervorgehoben: „Im Unterschied zum Deutschen machten die Wörter aber große Augen, wenn ich sie, ohne zu wollen, mit meinen deutschen Wörtern vergleichen mußte. Ihre Vertracktheiten waren sinnlich, frech und überrumpelnd schön“[36]. Das Rumänische ist für Herta Müller eine Inspirationsquelle: „Es wurde immer öfter so, daß die rumänische Sprache die sinnlicheren, auf mein Empfinden besser passenden Wörter hatte als meine Muttersprache. […] Ich habe in meinen Büchern noch keinen Satz auf Rumänisch geschrieben. Aber selbstverständlich schreibt das Rumänische immer mit, weil es mir in den Blick hineingewachsen ist“[37].
Herta Müller lernte Rumänisch erst im Alter von fünfzehn Jahren, als sie das schwäbische Dorf verließ, um weiter in die Schule zu gehen. Das späte Erlernen des Rumänischen hatte als Folge, dass die neue Sprache hinterfraglich angeeignet wurde. Die Autorin wurde jedes Mal zum Vergleich mit dem Deutschen und dem Dialekt angeregt. Die linguistische Vielfältigkeit öffnet für Herta Müller zugleich verschiedene Weltanschauungen: „Jede Sprache sieht die Welt anders an, hat ihr gesamtes Vokabular durch diese andere Sicht anders gefunden – ja sogar anders eingefädelt ins Netz seiner Grammatik. In jeder Sprache sitzen andere Augen in den Wörtern“[38]. Zum Beispiel, einen ganz anderen Blick wirft das Rumänische auf die Schwalbe, denn auf Rumänisch heißt sie rândunică. Die von der Autorin vorgeschlagene Übersetzung Reihensitzchen rückt das Bild der Schwalben in den Vordergrund, die in dichten Reihen auf dem Draht sitzen[39]. Verschiedene Ansichten haben die von der Autorin gesprochenen Sprachen auch über den Wind: „Im Dialekt des banatschwäbischen Dorfes, in dem ich aufgewachsen bin, sagte man: Der Wind geht. Im Hochdeutschen, das man in der Schule sprach, sagte man: Der Wind weht. Und das klang für mich als Siebenjährige, als würde er sich weh tun. Und im Rumänischen, das ich damals in der Schule zu lernen begann, sagte man: Der Wind schlägt, vântul bate. Das klang damals, als würde er anderen weh tun“[40]. Der fragende Blick auf die Sprachen ist also an den Grenzen mehrerer Sprachen entstanden. Das Rumänische bietet der Schriftstellerin eine Gelegenheit, um über den Sinn der Worte zu reflektieren. Das Rumänische ist die Sprache, die einen mittelbaren, reflektierten Zugang zum Sinn voraussetzt, im Gegenteil zum Deutschen, wo der Zugang zum Sinn unmittelbar und unreflektiert vorhanden ist. Das frühe Üben der rumänischen Sprache hat mit Sicherheit zu der Bildung der literarischen Sprache Herta Müllers beigetragen.
In ihren literarischen Werken trifft man zahlreiche Beispiele der rumänischen Sprache und Kultur. Die Intertextualität spielt eine große Rolle in Herztier, wo ein Gedicht von Gellu Naum, einem beliebten rumänischen Dichter Herta Müllers, immer wieder zitiert wird. Die rumänische Folklore ist ebenso anwesend in dem oben gennanten Roman, die Autorin erklärt in dieser Hinsicht: „Die Sprachbilder, die Metaphorik, die Redewendungen, die Folklore haben immer viel mehr strukturell zu mir gepaßt als das, was in meiner eigenen Sprache vorhanden ist. Ich habe durch dieses späte Erlernen der Sprache die nötige Distanz dazu gehabt“[41].
Nora Iuga, die Übersetzerin einiger Werke Herta Müllers ins Rumänische behauptete vor einigen Monaten: „Herta Müller ist in die rumänische Sprache verliebt und sie bringt sie zum Wert ins Deutsche. Volkstümliche und fast absurde Ausdrücke, die sie im Deutschen benutzt, nachdem sie sie «adlitteram» übersetzt, werden zur erfindungsreichen und ausdrucksvollen Metaphern. Ausdrücke wie «omul e un mare fazan», «a da cu bâta în baltă», «şi-a dat foc la valiză», «cerul gurii», «omuşorul», alles scheint reine Poesie zu sein“[42].
Die Behauptung Heimat ist die Sprache wird von Herta Müller abgelehnt, denn diese wurde ihrer Meinung nach von vielen Schriftstellern missbraucht, die nicht alles verloren haben um zu behaupten, dass sie keine andere Heimat als die Sprache mehr hätten (wie diejenigen die während der Nazizeit alles verloren haben)[43]. Herta Müller behauptet hingegen, dass nicht die Sprache Heimat ist, sondern die Aussage: Heimat ist das was gesprochen wird. Wenn das im Falle von Herta Müller stimmt, dann könnten wir behaupten, dass die rumänische Sprache in ihrer Heimat einbezogen ist.
Literatur
Müller, Herta: Eine warme Kartoffel ist ein warmes Bett. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1992.
Müller, Herta: Heimat ist das was gesprochen wird. Blieskastel: Gollenstein Verlag 2001.
Müller, Herta: Herztier. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2007.
Müller, Herta: Im Haarknoten wohnt eine Dame. Hamburg: Rowohlt Verlag 2000.
Müller, Herta: Der König verneigt sich und tötet. München: Carl Hanser Verlag 2003.
Müller, Herta: Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie Wahrnehmung sich erfindet. Berlin: Rotbuch 1991.
Arnold, Heinz Ludwig (Hrg.), Text+Kritik. Herta Müller, Heft 155, Richard Boorberg Verlag, München, 2002.
Enzmann, Nikoletta: Aspekte von Sprache bei Herta Müller. Sprachkritik und Sprachsensibilität. Konstanz: Magisterarbeit 2005.
Haines, Brigitt (Hrsg.): Herta Müller. Cardiff: University of Walles Press 1998.
Haupt-Cucuiu, Herta: Eine Poesie der Sinne: Herta Müller „Diskurs des Alleinseins” und seine Wurzeln. Paderborn: Igel Verlag 1996.
Heidegger, Martin: Repere pe drumul gândirii. Bucureşti: Editura Politică 1988.
Predoiu, Grazziella: Rumäniendeutsche Literatur und die Diktatur. Hamburg: Verlag Dr. Kovaç 2004.
Sienerth, Stefan (Hrsg.): Daß ich in diesen Raum hineingeboren wurde. Gespräche mit deutschen Schriftstellern aus Südosteuropa. München: Südostdeutsches Kulturwerk 1997.
Anmerkungen
[3] „Wenn westliche Intellektuelle von «Insel» reden, riechen sie das Parfüm der exemplarischen Freiheit“. In Herta Müller: Der König verneigt sich und tötet, S. 174.
[12] Herta Müller: Eine warme Kartoffel ist ein warmes Bett. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1992, S. 18.
[15] Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Text+Kritik. Herta Müller Heft 155. München: Richard Boorberg Verlag 2002, S. 7.
[19] Grazziella Predoiu: Rumäniendeutsche Literatur und die Diktatur. Hamburg: Verlag Dr. Kovaç 2004, p. 77.
[21] Nikoletta Enzmann: Aspekte von Sprache bei Herta Müller. Sprachkritik und Sprachsensibilität. Konstanz: Magisterarbeit 2005, p. 33.
[22] Herta Müller: Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie Wahrnehmung sich erfindet. Berlin: Rotbuch 1991, p. 54.
[31] Herta Haupt-Cucuiu: Eine Poesie der Sinne: Herta Müller „Diskurs des Alleinseins” und seine Wurzeln. Paderborn: Igel Verlag 1996, S. 123.
[32] Nikoletta Enzmann: Aspekte von Sprache bei Herta Müller. Sprachkritik und Sprachsensibilität, S. 28.